Schaarwächter, Jürgen (Hg.)

Reger-Studien 9: Konfession – Werk – Interpretation

Kongressbericht Mainz 2012 (= Schriftenreihe des Max-Reger-Instituts, Band XXIII)

Verlag/Label: Carus, Stuttgart 2013, 356 Seiten, mit DVD, 34,80 Euro
erschienen in: organ 2014/02 , Seite 59

Reger geröngt – Reger durchleuchtet …! – Dieser Sammelband mit recht unterschiedlichen Reger-Beiträgen ist so inhalts-schwer-wiegend wie ein dickes Orgelwerk „großen Stils“ von Max Reger. Eine illustre Ansammlung von Musikwissenschaftlern und Praktikern (oder beides) hatte sich im Oktober 2012 in Mainz zu einem interdisziplinären Symposium eingefunden und über eine Reihe teils unvermuteter Themen diskutiert. Eingeladen hatten das Max-Reger-Institut Karlsruhe, die Akademie der Wissenschaften und der Literatur, die Akademie des Bistums Mainz „Erbacher Hof“ sowie die Hochschule für Musik an der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz. Kann der praktizierende Organist, die praktizierende Organistin davon profitieren? Ja, er/sie kann! Und das nicht nur von denjenigen Beiträgen, die von anerkannten ausübenden Organisten stammen.
„Die Protestanten wissen gar nicht, welchen musikalischen Schatz sie an ihren Chorälen besitzen“ – so soll Reger sich geäußert haben. Die Fülle an kleinsten, kleinen und riesengroßen Orgelbearbeitungen des reformatorischen Liedguts zeugt zumindest von dieser Einschätzung. Und so stellt der katholische Theologe Peter Reifenberg die Situation der Konfessionen zu Regers Zeit und dessen Auseinandersetzung mit den christlichen Traditionen vor. Damit wird schon ein wichtiger Hintergrund Reger’scher Werke sichtbar. Susanne Popp, Direktorin des Reger-Instituts Karlsruhe, schildert wiederum das Fundament der cantus-firmus-gebundenen Wer­ke, nämlich das Bekenntnis des getauften Katholiken Reger: „alles, alles verdanke ich Joh. Seb. Bach“ (dem bekenntnistreuen Lutheraner!), und dessen Umgang mit den Chorälen der evangelischen Kirche. In weiteren Beiträgen zur Konfession berichten Klaus Unterburger über die religiöse Situation in Weiden/Oberpfalz (dort gab es damals eine Apotheke mit einem „evangelischen“ und einem „katholischen“ Eingang …) oder Dominik Axtmann über die Ausbildung und den sozialen Status der katholischen bzw. evangelischen Kirchenmusiker in der Reger-Zeit.
In einer zweiten Gruppe werden die praktischen Probleme der Reger’schen Musik beforscht. Dabei erfährt der beflissene Leser eine reichhaltige Menge über den Schaffensprozess und Regers akribische Korrekturwut, welche die damaligen Notenstecher oft vor schier unlösbare Aufgaben stellte; aber auch Details über sein Schriftbild, das in gewisser Weise einen Spiegel der Genese bietet, über editorische Pro­bleme, die die Verlage auch heute noch zu bewältigen haben, oder über die unterschiedlichste „Qualität“ der Fehler, die dem Oberpfälzer in seinen unzähligen Manuskripten unterlaufen sind. Insbesondere die späteren Umarbeitungen Regers, teils noch während des editorischen Pro­zesses, teils später, auch unter dem Einfluss Karl Straubes – und schließlich ein Beitrag über das Verhältnis Regers zu seinem größten Apostel auf der Orgel, eben Straube, dessen Bild Stück für Stück ergänzt wird, aber darum auch einem gewissen Wandel unterworfen ist (u. a. Gabriele Buschmeier, Julia Rosemeyer, Stefanie Steiner-Grage, Stefan König, Christopher S. Anderson). Was man mit einer ehrfürchtigen Bewunderung wahrnimmt: Nicht nur Straube war der wandelnde Prophet Reger’scher Orgelkunst – sage und schreibe 32 (!) Organisten spielten regelmäßig Reger zu dessen Lebzeiten. Dabei werden Namen genannt, an die man sich auch heute noch erinnert: Heinrich Reimann, Paul Gerhardt (nein, natürlich nicht der Liederdichter), Fritz Stein, Hermann Meinrad Poppen, Hermann Keller, Arno Landmann, Wolfgang Reimann, Gerard Bunk. Man mag über die unterschiedlichsten Gründe spekulieren: Unter diesen 32 Organisten finden sich – bezeichnender­weise? – nur zwei katholische …!
Arvid Gast berät Interessenten über die Interpretation Regers auf neobarocken und anderen, eher ungeeignet scheinenden Orgeln. Dabei stellt er Instrumente der Reger-Zeit vor (teils erhalten, teils umgebaut, teils verschwunden, teils gesprengt) und ermutigt zur Umsetzung Reger’scher Klangvorstellungen. Dass das mitunter recht schwierig wird, kann man an den Orgeln der Nachkriegszeit erleben, wie sie landauf, landab noch von vielen Kirchen behaust werden: wenige Grundstimmen, viele „kernlose“ Aliquoten oder schrille Mixturen, die an enervierendes Babygeschrei gemahnen. Mir ist der Satz eines sattelfesten und gründlichen Kollegen in Erinnerung, der über eine solche, nämlich seine Orgel sagte: „Wir haben immer unseren Reger darauf gespielt.“ Man kann das natürlich unterschiedlich deuten.
Der ewigen und leidigen Frage nach der Tempowahl versucht Gerhard Gnann auf die Spur zu kommen und berichtet von den vielen bekannten und einigen unbekannten Quellen diesbezüglich. Schließlich untersucht Jean-Baptiste Dupont (Bordeaux) den Einfluss der Orchestermusik auf Regers Orgelschaffen und die Bedeutung für die Interpretation anhand von Berichten, welche Orchesterwerke seiner Zeitgenossen Reger im Konzertsaal gehört haben. U. a. anhand einer Stelle aus der Ersten Orgelsonate fis-Moll op. 33.I (T. 41-44) meint er nachweisen zu können, dass eine bestimmte Instrumentierung dem Werk besser getan hätte. Man kann wie Dupont sicher viele solche Stellen finden (er zitiert weitere Stellen aus „Alle Menschen müssen sterben“ oder „Wachet auf …“), aber wir wissen doch, wie beinahe zwanghaft genau Regers Vorstellungen beim Komponieren waren, womit doch eher klar wird, dass der Meis­ter eben ganz genau wusste, was er tat. Eine Untersuchung wäre es allerdings wert, warum Reger erst spät Werke für großes Orchester verfasste, die sich allerdings einer ziemlich anderen Sprache bedienen als seine Orgelwerke. Ein sattelfester Kollege, dem ich einmal Regers Romantische Suite vorführte, meinte fassungslos: „Und so was hat Reger geschrieben?“ Zeigt das nicht, dass Regers Klavier-, Kammermusik-, Lied- und Orchesterschaffen in der Organis­tenwelt nach wie vor sträflich unterbelichtet ist?
Der Verlag gönnt dem Käufer noch eine beigelegte DVD mit den Diskussionen und mit Orgelbeispielen. Buch und DVD: Anregungen für wissbegierige Interpreten, die mehrere Blicke hinter die aufgeschichteten Noten des komponierenden Giganten werfen wollen, der ein rastloser und oft getriebener Musiker war, was sich in seiner Musik widerspiegelt, zugleich aber zu einer bewundernswerten Eigen-Art führt, die seine Kommentatoren und Rezensenten oft in feindliche Lager spaltet.

Klaus Uwe Ludwig