Guillou, Jean

Regard für Orgel op. 77

Verlag/Label: Schott Music, ED 21655
erschienen in: organ 2013/04 , Seite 62

Jean Guillou über sein Orgelstück: „Der Bezug zu Regard (Betrachtung) ist poetisch und intellektuell, es ist eine ‚innere Betrachtung‘.“ Bei dem gut zwanzigminütigen Werk handelt es sich um einen Kompositionsauftrag der Philharmonie Essen sowie der Alfred-und-Cläre-Pott-Stiftung. Die Uraufführung besorgte der Komponist selbst am 6. Oktober 2011 an der Konzert­orgel (Thomas Kuhn, Männedorf/ Schweiz: 2004, III/62 [85 r.]/P, 4502 Pfeifen) des Alfried Krupp-Saals der Essener Philharmonie. In vorzüglicher editorischer Aufmachung erscheint das Tonstück nun bei Schott; besonders überzeugt die sinnvoll gruppierte, überaus lesefreundliche Darstellung des komplexen Notenbilds samt der instruktiven Registrieranweisungen.
Der Klangmagier Guillou kreiert eine komplexe Struktur konsequenter Spannung, die sich in ihrer sinnlichen Atonalität hergebrachten formalen Kategorien versagt. Derzufolge sind prägnante musikalische Gesten und Episoden zu beobachten, die dem unmittelbaren individuellen Ausdruckswillen entspringen und eigene Kontexte schaffen. Anstelle einer prozesshaften, allzu konstruierten Anordnung des musikalischen Materials verströmt die Komposition in erfrischender Weise die singuläre Aura der Kunst der „schöpferischen Improvisation“ Guillous: „Alles in diesem Werk entspringt einer Entwicklung des inneren Lebens und der Gefühle“, erklärt er hierzu.
Die prologartige melancholische Eröffnung „Molto Lento“ – ein kurzes Duo in exponierter Lage, rechte Hand: Flûte 4’, linke Hand: Ranquette 16’ mit Violoncelle 16’ – mutet wie eine Frage an, „die zum Schluss wieder gestellt wird“. Unvermittelt, wie ein Blitzschlag, brechen aggressiv abgerissene Zweiunddreißigstel-Tongruppen hervor, gefolgt von bedrohlichen, teils flatternden Impulsen, deren rhythmische Zerfaserung in ein „schwebendes“ Metrum überleitet. Im ersten „Andante“-Abschnitt kontrastieren wiederholt dunkle secco-Akkorde mit melismatischen Linien und weit ausschwingenden Girlanden. Später treten quasi-aleatorische Tonrepetitionen und irisierende Bewegungen hinzu. Synthetische Registermischungen und polychrome Effekte verstärken das so erzielte surreale Klangbild.
Eine bedeutungsvoll anmutende Zäsur markiert das „Presto“: Über tumultös rumorenden Sechszehntel-Sextolen im Pedal erhebt sich im Manual eine elliptisch angedeutete Kantilene. Anschließend stellt eine abstrakte Reminiszenz den zyklischen Bezug zum Anfang wieder her, wobei die ursprüngliche Zweistimmigkeit um eine Pedalstimme, vorgetragen mit Basson 16’, erweitert wird. Das letzte Drittel der Komposition steigert sich in fieberhafter Aktivität, etwa durch Schichtung unterschiedlicher rhythmischer Figurationen und insistierend wiederholter Akkordballungen, suzessive zu voller Klangstärke der Orgel. Bis ins Nichts verhauchend, beschließt ein ausgedehnter vibrierender Triller die ekstatische Vision.
Für eine authentische Interpretation sollte die Orgel über einen Pedalumfang bis g1, Manual bis a3 verfügen; die angegebenen Regis­trie­rungen können bzw. sollen „dem Instrument entsprechend angepasst werden“ (Guillou).

Jürgen Geiger