Jean-François Dandrieu
Premier Livre de Pièces d’Orgue
Pieter-Jan Belder an der Küttinger-Orgel (1779) der Kirche Saint-Côme-et-Saint-Damien, Vézelise (Frankreich)
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Der Franzose Jean-François Dandrieu (1682–1738), 1705 Nachfolger Lèbegues an Saint Merry in Paris, 1721 Organist der königlichen Kapelle, 1733 auch Nachfolger seines Onkels Pierre Dandrieu (1664–1733) an St. Barthelémy, schrieb u. a. drei Livre de Pièces de Clavecin (Paris, 1724/1728/1734) mit 19 eigenwillig amüsanten Suiten und mit Les Caractères de la Guerre (1718) eine imposante sinfonische Schlachtenmusik.
Sowohl beim Premier Livre de Pièces d’Orgue, 1739 ediert, und erst recht beim Livre de Noëls (1759) ist die Autorschaft unklar. Die Noëls sind meist Bearbeitungen der 1725 edierten Stücke seines Onkels Pierre Dandrieu. Pieter-Jan Belders Einspielung beginnt mit dem umfänglichen Offertoire pour le Jour de Paques O Filii et Filiae, Pierre oder Jean-François?
Belder hält sich an die Reihenfolge des Livre d’Orgue, in dem sechs Suiten zu je drei bis sechs Sätzen mit sechs Magnificats zu sechs Sätzen abwechseln. (Die „Fuge sur l’Hymne des Apòtres Exultet“ der ersten Suite ist auf der CD fälschlicherweise umgestellt worden auf den letzten Platz der ersten Suite.) Die wegen der Alternatim-Praxis kurzen Fugen gehen kaum über die Exposition hinaus. Prägend sind die majestätischen Eingangssätze der Suiten (Offertoires im Grand jeu) und der Magnificats (im Plein jeu). Einige Recit- und Flûtes-Sätze und zwei naive Muzètes verkörpern eher nachdenkliche Affekte, die anderen Sätze dienen der Virtuosität. Das „Duo, en Cors de Chasse sur la Trompète“ entspricht der o. g. Schlachtenmusik. Die Kürze der 63 liturgischen Stücke kann schnell ermüden, richtig zu hören sind sie im Wechsel mit den Versen eines Vokalchors, die nächste Suite und Magnificat erst am Tag darauf!
Der Lübecker Professor Pieter-Jan Belder, bekannt durch zahlreiche Einspielungen alter Musik auf hohem Niveau, enttäuscht auf dieser CD. Anzumerken sind Taktverzögerungen, um motivische Abschnitte zu verdeutlichen, sein Staccato-Spiel statt einer Non legato-Artikulation, manche Clustern gleiche Verzierungen, unorganische Schluss-Ritardandi, nur gelegentliches Jeu inegal, Registrierfehler wie die fehlende Manualkoppelung bei Flûtes-Stücken und die Cornett-Registrierung einer Fuge statt einer Zungenstimme.
Das Booklet enthält einen ausführlichen, ausgezeichneten Text von Jon Baxendale, der die Situation in Frankreich um 1700 diskutiert, familiär, sozial, gesellschaftlich, musikhistorisch, fußend auf etlichen Details z. B. dem Privileg der Druckerfamilie Ballard und dem Bekanntwerden von Girolamo Frescobaldis Fiori musicali.
Nur die Disposition informiert über die 1779 von Georges Küttinger (1733–83) aus Nancy fertiggestellte Orgel. Sie wurde 2007 rückgeführt auf den Zustand von 1775/ 1792 durch die Manufacture d’Orgues Kœnig aus Sarre-Union. Das Instrument klingt untypisch hell und obertönig, im Internet finden sich keine genaueren Angaben.
Trotz dieser Anmerkungen hat die Einspielung ihren Wert als zur Zeit einzige CD, die Dandrieus Livre d’Orgue bringt. Den Kauf dieser CD lohnt allein schon der Booklettext von Jon Baxendale!
Rainer Goede