Liszt, Franz

Präludium und Fuge

über B-A-C-H für Orgel

Verlag/Label: G. Henle Verlag 976
erschienen in: organ 2011/03 , Seite 58

Bereits der Titel betont die große Nähe zu Bachs Präludien und Fugen für Orgel, mit denen sich Liszt über Jahrzehnte auseinandergesetzt hatte. Die vorliegende Veröffentlichung zum Liszt-Jubiläum 2011 im gewohnten und gut handhabbaren Querformat konzentriert sich auf die heute fast ausschließlich gespielte Orgelfassung von 1870, die bei Schuberth in Leipzig 1872 als Erstdruck vorgelegt wurde. Gerade in der Zeit vor dieser zweiten Fassung hatte sich Liszt in Rom intensiv mit Bachs Passionen, der h-Moll-Messe und dem Weihnachtsoratorium befasst, so dass eine neuerliche Überarbeitung der Erstfassung von 1855, in der Mitte seiner Weimarer Altenburg-Periode entstanden, nahegelegen hatte. Aus den gründlich interpretierten Quellen geht die gewohnte Abstimmung orgelspieltechnischer Fragen mit Liszts legendarischem Kantor A. W. Gottschalg hervor, mit dem der Komponist in kontinuierlichem Briefwechsel stand, und der ihm auch die Noten zu seinen römischen Bach-Studien hatte expedieren lassen. Freunde der Zahlensymbolik finden dann eine Gesamtlänge von 293 Takten, den Auftakt am Anfang mitgezählt, sowie im Präludium 81, in der Fuge 212 Takte, so dass die Quersumme 14 jeweils mit Bachs Namensquersumme korrespondiert.
War 1871 eine virtuose Klavierfassung erschienen, so zeigt sich in der späten Orgelfassung das im kontinuierlichen Dialog mit den virtuos die Orgel spielenden Liszt-Schülern und dem fortgesetzten Austausch mit Gottschalg gewachsene Verständnis von Klangwirkung und effektiver technischer Anforderung. Gerade die Übergänge zwischen den verschiedenen Teilen wurden intensiv überarbeitet zugunsten besserer Spielbarkeit und schlüssigerer Entwicklung. Das gut zwölfminütige Stück überzeugt durch große formale Geschlossenheit und, relativ zum spieltechnischen Aufwand, überwältigende Dramaturgie, die in der Kürze der Aufführungsdauer alle klanglichen Facetten einer gro­ßen romantischen Orgel von ppp bis fff zur Wirkung kommen lässt. Schließlich sollte es in der Erstfassung zur Einweihung der damals klanglich hoch bedeutenden Merseburger Domorgel (1855) gespielt werden, die damit als Idealklangkörper Pate stand. Doch empfiehlt es sich auch als Repertoirestück für vergleichsweise kleinere und nicht dezidiert romantisch disponierte Instrumente mit mindestens zwei Manualen (und Schweller). So ist auch eine Aufführung an der Arnstädter Bach-Orgel in Liszts Gegenwart dokumentiert, und sowohl Gottschalg als auch Tausig hatten es an der bescheidenen Tiefurter Orgel gespielt.
Dennoch empfiehlt sich für die Erarbeitung eines eigenen interpretatorischen Ansatzes die intensive Auseinandersetzung mit der Klangwelt Ladegasts sowie dem Liszt noch sehr nahestehenden Interpretationsansatz Straubes, in dessen Interpretationsausgabe von 1917 einzusehen. Die Erstfassung findet sich bei der Gesamtausgabe der Universal Edition von 1984, deren zweite und hier besprochene Fassung bis auf marginale Abweichungen in der Artikulationsbezeichnung in Notentext, Tempo und dynamischen Angaben identisch ist.
Ralf Bibiella