Pärt, Arvo

Pari intervallo für Orgel

Verlag/Label: Universal Edition, UE 36995
erschienen in: organ 2016/03 , Seite 62

Es gibt wenige Orgelkompositionen, die sich durch ein individuelles, spezifisches Notenbild auszeichnen. György Ligeti entwickelte in seinem Continuum sowie in seiner Etüde Coulée ein solch eigenständiges Notenbild. Ähnlich unabhängig-autark schreibt der estnische Komponist Arvo Pärt in Pari intervallo (1976/80). Es sind Noten, die wie moderne Architektur anmuten.
Das Faszinierende daran ist die Reduktion: Alle vier Stimmen behalten ihren Rhythmus. Bass und Alt bewegen sich in Ganzen, auf der 3 setzt der Sopran und auf der 4 der Tenor ein. Der Rhythmus bleibt immer gleich: Halbe, Viertel, Viertel. Auf diese Weise ergibt sich ein klares optisches und klangliches Muster.
Mit sechs ? nutzt die Musik durchgängig eine es-Moll-Skala, So­pran und Tenor spielen nur es-Moll-Dreiklangstöne. Sie verfahren nach dem Pärt eigenen Tintinnabuli-Stil – „Tintinnabulum“ bedeutet „Glöckchenspiel“: Die „Glöckchen“ hängen an den anderen Stimmen. Sie springen nach oben oder unten, um den anderen Platz zu machen. Als abhängige Stimmen bleiben sie Begleitung. Dennoch sind sie an einigen Stellen Kontrapunkt, wo sie harmonisch nicht „passen“. Sie sind Melodie, wo sie aus dem Tongebilde herausragen.
Die Linien in Bass und Alt werden in Terzen geführt, dies drückt der Titel Pari intervallo aus. Wie ein unendlicher Cantus firmus malen sie den tiefen Bereich aus (im Bass über Es–C–Ges). Die nächsten Abschnitte, die jeweils durch ein Atemzeichen mit Doppelstrich gegliedert sind, schwingen sich langsam zur Mitte des Stücks auf (im Bass bis zum es). Die zwei Schlussteile beruhigen sich durch abfallende Tonhöhen. Alle sechs Abschnitte bestehen aus genau zwölf Takten. Die Musik bleibt ganz bei sich, sie ist durch ihre strenge Regelführung fast einstimmig. Eine Ausnahme bildet der um zwei Takte verlängerte Schluss: Dort fällt der Terz-Cantus-firmus „regelwidrig“ mit der Oktave zusammen. Er bremst gefühlt unendliche Musik.
In der Geschichte gab es immer Komponisten, die quasi „gegen ihre Zeit“ schrieben; einige Musiker meinen, man könne sich dadurch der Gegenwart entziehen. Das scheint jedoch nicht zu funktionieren. Man kann zumindest keinem jungen Komponisten mit gutem Gewissen raten, „wie Pärt“ zu schreiben, um sich eine Auseinandersetzung mit der Gegenwart zu ersparen. Was hier gilt, funktioniert nur in diesem Kontext. Es wirkt in absoluter Authentizität.
Die Musik ist glatt. Als Regis­terangaben schlägt der Komponist einen zarten 8-Fuß, eventuell Quintatön 8’ (Tremulant ad libitum) vor, das Pedal wird mit einem 16-Fuß angekoppelt. Das Tempo ist moderato ohne spezifische Metronomangabe: nicht auffallen, nicht aufregen, nicht experimentieren – nichts als Harmonie, Dreiklang, Linie … Zwischen New Age und Minimalismus, Reduktion und Sphärenmusik, Meditation und Verweigerung bleibt Pärt als Komponist ein Unikat gelassener und eindrucksreicher musikalischer Eigenständigkeit.

Dominik Susteck