Dupré, Marcel

Orgelwerke Vol. 11. Suite Bretonne op. 21 / Les Nymphéas op. 54 / Trois Esquisses op. 41 / Chorales op. 78 (Auswahl)

Verlag/Label: Dabringhaus und Grimm MDG 316 1293 (2010)
erschienen in: organ 2011/02 , Seite 52
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Nach der Einspielung aller Orgelsymphonien Louis Viernes und Charles-Marie Widors sowie des Gesamtwerks von Alexandre Guil­mant durch den niederländischen Organisten Ben van Oosten widmet sich das Label Dabringhaus und Grimm nun auch der Gesamt­edition der Orgelwerke Marcel Duprés, wieder eingespielt durch denselben Interpreten. 
Nach der vorliegenden 11. Folge zu urteilen, wird dieses Unterfangen auf dem erreichten Niveau der bisherigen Intégrals weitergeführt werden können, und zwar in puncto interpretatorische Gestaltung, Auswahl der eingespielten Instrumente und Aufnahmequalität. Duprés Œuvre rechnet mit einer stilistischen Vielgestaltigkeit, die ihrerseits verschiedene Orgeltypen voraussetzt. Dazu stellt sich bei Dupré immer die interpretatorische Frage, ob man seinen strikten, von ihm selbst überlieferten Prämissen folgt oder neuen Generationen undogmatisch auch gewisse „neo-romantische“ bzw. wie hier im Falle des Casavant-Instruments der Brick Presbyterian Church, New York City, gewisse neo-klassische Freiheiten erlaubt sind. 
Duprés Orgelideal hat sich im Spannungsfeld des Übergangs von der romantisch-symphonischen Ca­vaillé-Coll-Orgel einerseits zur neoklassischen Umorientierung, andererseits unter den hochsinfonischen Einflüssen der anglo-amerikanischen Großorgel – insbesondere vom Typ Ernest M. Skinners („American Symphonic Style“) – entwickelt. Viele entsprechende Umbauten romantischer Instrumente ebenso wie Neubauten wurden von ihm betreut. Man mag dazu stehen, wie man will, doch ist die französische Orgelkunst des 20. Jahrhunderts eines Jean Alain, Duruflé, Litaize, Lang­lais, Tournemire oder Messiaen und eben auch eines großen Teils des Werks von Dupré adäquat wohl erst auf dem neoklassischen Orgeltypus einer mit Aliquoten, höher liegenden Mixturen und weiteren Farbregistern angereicherten und ergänzten Orgeldisposition entstanden. 
Die Programmzusammenstellung einer CD aus einem solch vielgestaltigen Gesamtwerk, das virtuose Konzertmusik, didaktische Stücke und kirchliche Gebrauchsmusik aus verschiedenen Kompositionsperio­den in sich vereint, stellt freilich eine Herausforderung dar. Auf der vorliegenden CD überzeugt die programmatische Konstellation der Stücke und hält den dramaturgischen Spannungsbogen.
Mit der Suite Bretonne op. 21 (1923) wird der Hörer durch subtile Stimmungs- und Landschaftsbilder aus der Bretagne in die orches­trale Palette der amerikanischen Orgel eingeführt. Betörend erklingen Klarinetten-, French Horn- und Flötensoli, auch die Chimes werden effektvoll-sinnhaft eingesetzt. Typische frankophone Register wie die Voix céleste (in der virtuos souverän gespielten, berühmten Fileuse), Voix humaine und Hautbois überzeugen hier wie auch die weichen foundations Casavants. 
Im weiteren Programmverlauf werden jeweils fünf Orgelchoräle aus den 79 Chorales op. 28 (1931) eingestreut. Diese Miniaturen verarbeiten die Themen, die Bach in seinen Choralvorspielen verwendet hat, und sind als didaktisches Werk für den elementaren Orgelunterricht konzipiert. Hier werden die klassische Klangmischungen der Casavant-Orgel vorgestellt. 
Einen Höhepunkt des Gesamtprojekts bietet die Realisierung des in den Jahren 1958/59 über die acht weltberühmten monumentalen See­rosenbilder des Impressionisten Claude Monet verfassten Zyklus’ Les Nymphéas op. 54. Der Komponist rechnet für eine werkgerechte Aufführung mit einer äußerst farbenreichen Orgel anglo-amerikanischen Typs mit großem Manual und Pedalumfang, allen nur möglichen Koppeln inklusive Oktaven, Superoktaven und abschaltbarer Äquallage sowie mit der Möglichkeit einer frei einstellbaren Teilung der Manuale und des Pedals. So hat der Organist gleichzeitig sechs unterschiedliche Klangfarben zur Verfügung, um die Eindrücke, die die Farbmischungen der Bilder Monets auf Marcel Dupré gemacht haben, darstellen zu können. Das hat als Einzige bisher Rolande Falcinelli in ihrer LP-Aufnahme (1968) auf Duprés Hausorgel so verwirklicht.
Das hochvirtuose Finale bilden die im Liszt’schen Sinne „transzendentalen“ Orgeletüden, die Trois Esquisses op. 41, die Dupré 1941-43 für seine hypervirtuose Meisterschülerin Jeanne Demessieux geschrieben hat. Diese Skizzen – weniger Etüden als durchaus symphonische Konzertstücke – werden mit stupender Technik und großem Einfühlungsvermögen sowie transparenter Deutlichkeit dargestellt. Die perfekte Intonation und die prompte Pfeifenansprache der Orgel genügen den hohen technischen Erfordernissen, die die eingespielte Musik an das Instrument stellt.
Bewundernswert ist der „lange Atem“ des Interpreten, der insbesondere auch die ruhigen Passagen trägt und die unaffektierte Bewäl­tigung technisch anspruchsvollster Passagen fern jeder Effekthascherei. Chapeau!
Stefan Kagl