Buxtehude
Orgelwerke (Urtextausgaben)
hg. von Harald Vogel,
Band I/1: Freie Orgelwerke (pedaliter). BuxWV 136–153, 158, EB 9304
Band I/2: Freie Orgelwerke (pedaliter), BuxWV 154–157, 159–161, Anh. 5, EB 9305
Band II: Freie Orgel- und Clavierwerke (manualiter), BuxWV 162–176, 225, EB 9306
Nach Bruhns, Lübeck, Scheidt und Sweelinck hat Harald Vogel sein über viele Jahrzehnte gewachsenes Urtextausgaben-Projekt mit drei Bänden der freien Werke von Dieterich Buxtehude (um 1637–1707) fortgesetzt. Schon seine von 1987 bis 1993 datierte epochale Gesamteinspielung von Buxtehudes Orgelwerk auf historischen Orgeln setzte einen Editionsvergleich mit eingehendem Quellenstudium voraus.
Aus Harald Vogels immensem Wissen zur historischen Aufführungspraxis, seiner profunden instrumentenbaulichen Kenntnis und der herausragenden didaktischen Befähigung sind wesentliche Elemente im Notentext abgebildet; insbesondere der lebendige Kritische Bericht in Band I/2 und II, die zeitgeschichtlich höchst informativen Quellenbeschreibungen und vor allem die wesentliche Aufführungshilfen vermittelnden Kommentare zu den Einzelanmerkungen (mit zahlreichen Faksimiles von Einzelstellen) machen die Anschaffung dieser Bände mehr als empfehlenswert.
Wegen des schmerzlichen Verlustes der autographen Vorlagen wird jede Neuausgabe, welche die oft generationsversetzen Abschriften gegeneinander gewichtet, andere Prioritäten zur Annäherung an den verlorenen Notentext setzen. Damit ist die Tür für wissenschaftliche, oft leidenschaftlich geführte Disputationen geöffnet, auf die aber in dieser Besprechung nicht eingegangen wird.
Editionskriterien waren quellenkonform wiedergegebene Balkierungen, Taktvorzeichnungen, Pausennotationen, metrische Strukturen und vereinheitlichende Titelangaben, während die taktweise Geltung der Akzidentiensetzung und der flexible Gebrauch von zwei oder drei Systemen modernen Lesestandards entsprechen. Sehr hilfreich ist der Einschub von Faksimilies (z. B. zu BuxWV 142 und 143) unmittelbar vor dem Notentext. Begrüßenswert ist die Entscheidung, Werke, bei denen die Quellenlage verschiedene Ausführungen anbietet, in den Anhängen als Ergänzung abzubilden (BuxWV 139, 149, 151, 154) ebenso wie die erstmalig für den praktischen Gebrauch editierte Buxtehudesche Transkription einer Gambensonate von Antonio Bertali.
Vogel übernimmt von den wissenschaftlichen Ausgaben von Michael Bellotti und Christopher Wolf die Beschreibung der Quellen samt Abweichungen, fügt dem aber noch eine kommentierte Fehleranalyse hinzu. Wichtig ist der Verweis auf mögliche Fehlerquellen bei der Übertragung aus der (verlorenen) handschriftlichen Buchstabentabulatur in die Liniennotation. Bei der Erläuterung der Buchstabentabulatur weist Vogel auf die gleichlautende Terminologie in der Pfeifenbeschriftung norddeutscher Orgelbauer hin. Das Fehlen gedruckter Orgelquellen in Norddeutschland begründet Vogel mit den Kopiergebühren, die in der professionell organisierten Organistenausbildung einen nicht unbedeutsamen Nebenverdienst ausmachten. Bei den Pedalangaben zeichnet sich bei den Quellen chronologisch eine zunehmende Präzisierung ab, der Vogel aber nur dort durch Einfügung
eines eigenen Pedalsystems Rechnung trägt, wo die Quellenlage eindeutig ist oder wo Werkteile nicht manualiter gespielt werden können.
Die Beschreibung der Quellen ist von hohem Informationswert, da jeweils ihre Beschaffenheit, der genaue Titel mit Paginierungsangabe, spezifische Schriftmerkmale, aber auch die Verfasser, Besitzer und spätere Zusätze sehr lebendig dargestellt sind.
Bei den übersichtlich tabellierten Einzelanmerkungen sind genaue Begründungen für die gewählten Korrekturen mitgeteilt. Dies leitet zu einem weiteren Abschnitt mit Kommentaren zu den Einzelanmerkungen über, der in aufführungspraktischer Hinsicht sehr ergiebig ist und für viele Stellen die Wahlmöglichkeit des Manualiterspiels oder für den Pedalgebrauch sowie für obligate oder einmanualige Spielweise anbietet. Fast bei jedem Einzelkommentar wird auch Bezug auf die Ausführbarkeit bei mitteltöniger Stimmung genommen. Dies ist auch ein wichtiges Datierungskriterium, wie die Auflistung der Stimmarbeiten der beiden Stellwagen-Orgeln nach den Wochenbüchern der Lübecker Marienkirche im Kapitel „Tonartengebrauch und Orgelstimmungen“ nachweist. Dissonante Härten können aber auch als Bestandteil des kompositorischen Konzepts für das Abendmahlsverständnis im Sinne der Schrift Himmlisches FreudenMahl (1713) von Johann Rittmeyer gedeutet werden.
Beim Vergleich von Praeludium ex C BuxWV 136 mit anderen Editionen finden sich im Wesentlichen Unterschiede in der Notation eines Kontrasubjekts ab Takt 20, die Vogel konsequent nach der Quellenlage wiedergibt, sowie mit der überraschenden Verwendung von Doppelpedal entsprechend einer späteren Beischrift in der Quelle E. B. 1688.
Im Band II Freie Orgel- und Clavierwerke wird im Anhang eine Manualiterfassung des Praeludium ex D BuxWV 139 abgedruckt, das sich auf einer gebrochenen kurzen Oktave, wie sie beispielhaft mit der Klaviatur der Schnitger-Orgel von Cappel (1680) abgebildet ist, so realisieren lässt. Diese Manualanlage ist auch grundlegend für viele der manualiter zu spielenden Praeludien und Canzonen. Vogel geht auch auf die Frage ein, wie es seinerzeit um die Übemöglichkeit zum Erlernen des obligaten Pedalspiels stand: mit Sicherheit überwiegend auf besaiteten, oft mit einem angehängten Pedal versehenen Clavierinstrumenten.
Zuletzt geht Vogel noch auf die Ornamentik ein, die einen Stilwandel zeigt von den ausnotierten und damit die größte Authentizität aufweisenden Verzierungen, die von der Hauptnote ausgehen, bis hin zu den Abschriften aus dem Umfeld von Johann Gottfried Walther mit gehäuft hinzufügten Ornamenten in französischer Manier.
Das umfassende Wissen zur Quellensituation und zum musikgeschichtlichen Hintergrund, verbunden mit einer in hohem Grade didaktisch-praxisbezogenen Anwendung, machen das nachhaltige Studium dieses Kompendiums zu einer wertvollen Basis für die Überprüfung und Weiterentwicklung eigener Interpretationsvorstellungen. Auf weitere Folgebände, die dann vermutlich auch Fingersetzung, Artikulation und Registrierung erläutern, dürfen wir gespannt sein!
Josef Miltschitzky