Lemmens, Jacques-Nicolas (1823-81)

Orgelwerke, Band VIII: 13 Orgelwerke

hg. von Tobias Zuleger

Verlag/Label: Dr. J. Butz-Musikverlag 2521
erschienen in: organ 2013/01 , Seite 60

Das Vorwort bietet (1.) eine biografische Skizze, (2.) eine Würdigung des belgischen Reformers, (3.) eine Typisierung seiner Orgelkompositionen und (4.) aufführungsprak­tische Hinweise. Jacques-Nicolas Lem­mens’ Aufenthalt 1846/47 in Breslau bei Adolf Friedrich Hesse wird nicht erwähnt; die damit zusammenhängende Problematik der „Sainte tradition“ kommt auch anderweitig nicht zur Sprache. Die Würdigung bezieht sich vornehmlich auf das 19. Jahrhundert; eine rezeptionsgeschichtliche Fortschreibung bis in die Gegenwart findet nicht statt.
Die 13 Orgelwerke (Adoration, zwei Communions, Hymnus Creator, Magnificat, Prélude funèbre, Prière, Quatuor, Offertoire, Lauda Sion, Fugue, Introduction et Fugue, Laudate Dominum) sind – laut Vorwort – der Orgelschule von 1862 entnommen, was für die Adoration allerdings nicht zutrifft (recte: 3. Sonate). Beim Vergleich mit der École d’Orgue, die im voll praxistauglichen Reprint des Originalverlegers von 1862 zugänglich ist (Mainz: Schott 2007, ED 1319, 1320), zeigt sich, dass die Neuausgabe zwar die Noten wiedergibt, dabei aber eine Reihe von Essentials kommentarlos eliminiert – so etwa den vorhandenen Fußsatz bei Creator, wo man Lemmens endlich authentisch kennenlernen kann (Faksimile in organ 2/2012, S. 30 f.); ferner ist der originale Hinweis auf die alternative Manualiter-Ausführung ersatzlos entfallen. Bei Prière fehlt der Fingersatz in Takt 5, ferner bleiben segue und das nachfolgende 38-taktige Risoluto völlig unbeachtet. Sodann in Bezug auf die Solokantilene der Gambe von figurativer Begleitung bzw. leich­te(r) Hervorhebung der Begleitstimme (S. 2) zu sprechen, verkennt absolut den Sinn dieser Miniatur, denn hinter dem Gamben-Solo der Orgel verbirgt sich nichts anderes als die Cello-Kantilene der zeitgenössischen Salons, was geradezu die Frage provoziert, ob Lemmens hier nicht seine eigene Position, der Organist habe die Gläubigen nicht zu unterhalten (amuser – S. 2, Anm. 1), konterkariert.
Dass jeglicher konkreter Quellennachweis fehlt – stattdessen eine Danksagung an einen Bekannten für die Überlassung von abgelichtetem Quellenmaterial zu lesen ist (S. 2) –, nährt den Verdacht, dass dem Herausgeber we­der der komplette Druck von 1862 noch die Editio princeps von 1850/51 zur Verfügung gestanden haben. Was will eine Quelle, was will deren Neuausgabe vermitteln? Es läuft am Ende auf eine Frage des Anspruchs hinaus:
(a) Komplettes authentisches Flair, Originalität nebst theoretischen Grundlagen und praktischen Übungen (Fingersatz, Pedalschule) bietet Schotts Reprint.
(b) Zwölf ausgewählte Sätze von Lemmens in moderner Notentypie, bei denen jedoch einige charakte­ris­tische Implikationen der Erstdru­cke rigoros eliminiert worden sind, hält die Butz-Neuausgabe parat.
 Wieviel Substanzverlust verträgt Lemmens? Den glühenden Eifer, den die Wiedergewinnung der Renaissance- und Barockmusik gezeigt hat, scheint es jedenfalls in Bezug auf das 19. Jahrhundert – bedauerlicherweise – nicht zu geben.

Klaus Beckmann