Tunder, Franz

Orgelwerke

Verlag/Label: 2 CDs, Stradivarius STR 37029 (2016)
erschienen in: organ 2016/03 , Seite 53

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Franz Tunder (1614–67) ist den meisten Organisten eher vage ein Begriff als Vorgänger Dieterich Buxtehudes im Amt des Organis­ten an St. Marien in der Hansestadt Lübeck. Das meiste ist kaum bekannt – die ab und an aufgeführte Choralfantasie über Komm, Heiliger Geist, Herre Gott und das eine oder andere Präludium einmal ausgenommen. Tunders überlieferte Orgelmusik steht allzu sehr – dabei völlig zu Unrecht – im Schatten der Rezeption des Œuvres seines berühmten Nachfolgers.
Dabei erschließen sich allein schon durch die biografischen Daten des Meis­ters im Kontext mit einigen Großen seiner Zeit höchst interessante Verflechtungen in eine europäisch geprägte frühe norddeutsche Epoche der Orgelmusik. Tunder wurde 1614 in Lübeck geboren und kam (unter uns nicht weiter bekannten Umständen seiner musikalischen Ausbildung) 1632 als Organist an den Hof zu Gottorf-Holstein, der zu dieser Zeit neben Hamburg und Lübeck ein Zentrum der Musikpflege höchster Provenienz war. Der Einfluss Kopenhagens als einer weiteren erstrangigen Kulturstätte war hier deutlich spürbar; wahrscheinlich lernte Tunder dort auch den Komponisten William Brade kennen, der für seine im englischen Consort-Stil verfassten Kammermusiken unangefochten als Koryphäe seines Faches galt. Eine lebenslange Freundschaft verband Tunder mit Matthias Weckmann, der – von Dresden und Heinrich Schütz kommend – nach Studien bei Heinrich Scheidemann und Jacob Prätorius später in Hamburg reüssierte. Da Weckmann spätes­tens nach einem recht kollegialen Wettstreit am Dresdener Hof mit Johann Jacob Froberger befreundet war, lässt sich ebenfalls auf eine Beeinflussung Tunders durch den so umfassend in allen Stilen gebildeten Süddeutschen schließen. Mehr noch: Anlässlich einer Studienreise nach Kopenhagen lernte er mutmaßlich bei Kapellmeister Melchior Borchgrevink, der seinerseits noch Schüler Giovanni Gabrielis gewesen war. Die Kenntnis und Handhabung des italienischen Stils Frescobaldi’scher Prägung scheint Tunder nicht zuletzt durch diese Umstände mehr als nur geläufig gewesen zu sein. Ab 1641 übte er das Amt des Lübecker Marien-Organisten (und Werkmeisters) aus, wobei ihm zwei der großen Instrumente Norddeutschlands zu Verfügung standen – die Große Orgel (1653-55 von Friedrich Stellwagen überarbeitet: III/P/50) und die unwesentlich kleinere, so genannte „Totentanz-Orgel“ (III/P/40). 1646 begründete er die Tradition der „Abendmusiken“, die nachmalig berühmt wurden und bis ins Jahr 1810 bestanden.

Tunders erhaltene Orgelwerke sind zu Lebzeiten nicht gedruckt worden und heute in der Tabulatur von Pelplin, der Lüneburger Ratsbücherei und der Universitäts­bibliothek von Uppsala überliefert. Neun choralgebundene Werke, eine Canzona und fünf Praeludia (eines davon lediglich fragmentarisch erhalten) kennen wir heute von seinen Orgelwerken. Den erwähnten italienischen Einfluss weist vor allem die Canzona auf, die Präludien sind dreiteilig angeordnet und insofern Vorläufer der fünfteiligen Präludien Buxtehudes. Die Bildhaftigkeit der Textausdeutung in den Choralfantasien prädestinieren diese zu bedeutenden ersten Schöpfungen dieses speziell norddeutschen Genres.

Nun sind jüngst gleich zwei Gesamtaufnahmen erschienen, bei denen sich zwei italienische Maestri d’organo dem Tunder’schen Gesamtwerk widmen. Manuel Tomadin musiziert an der Dell’Orto e Lanzini-Orgel (2011: 33/III/P/) der Pfarrkirche des norditalienischen Städtchens Pinerolo, die sich in Disposition, Werk-/Gehäuseaufbau, Gehäusegestaltung und weiteren essentiellen Details akribisch an ähnlich großen norddeutschen Arp-Schnitger-Orgeln orientiert (Stradivarius). Sein Kollege Emanuele Cardi verwendet für seine Einspielung die Ghilardi-Orgel (1996: 35/III/P) von Santa Maria della Speranza in Battipaglia (Süditalien), die laut Begleittext des CD-Booklets ebenfalls von Orgeln Arp Schnitgers inspiriert sein soll.

Wenn man beide Einspielungen im Vergleich hört, trifft sofort der unterschiedliche Eignungsgrad beider Instrumente ins Ohr – das Instrument von Pinerolo mit seiner modifizierten 1/5-Komma-Temperatur und der äußerst sorgfältigen und gelungenen Intonation verleiht (übrigens bei ähnlichen Spielzeiten der Interpreten) der Musik Tunders eine erstaunlich authentische klangliche Aura (trotz einer nicht sonderlich nachhallenden Kirche), sowohl in den diversen Plena als auch in den zahlreich erklingenden solistischen Registerkombinationen.

Manuel Tomadins spielerische und klangliche Darstellung ist von tiefer stilistischer Kenntnis, beeindruckender artikulatorischer Wachheit und einem angenehm musikantischen Zug. Er lässt übrigens auch das fragmentarisch überlieferte Praeludium auf seiner Aufnahme erklingen. Emanuele Cardi ist dagegen in all den vorgenannten Disziplinen etwas „lockerer“ – nicht immer erschließt sich beim Hören die Zielsetzung seiner Herangehensweise in Registrierung und Artikulation, manches erscheint „zufälliger“. Als Beispiel hierfür möge die klangliche Realisierung der Fantasie über Komm, Heiliger Geist, Herre Gott dienen: Zu pauschal werden hier die Regis­triermischungen konzipiert; der klangliche Aufbau geht kaum mit der prozesshaften Dramaturgie der Fantasie einher; wenig spannungsreiche, „hübsche“ Klangkombinationen widersetzen sich dem stringent angelegten Duktus – ganz im Gegensatz zu Tomadins überzeugenderer Lesart desselben Stücks. Leider ist auch die Ghilardi-Orgel mit ihrer fast gleichschwebenden Kellner-Stimmung weniger für die Darstellung norddeutscher Musik geeignet. Ihr Klang erinnert mehr an gediegene Instrumente der (vergangenen) neobarocken Ära. Insgesamt bleibt diese Einspielung in entscheidenden Punkten ihrer Konkurrenz unterlegen.

Christian Brembeck