Franck, César (1822-90)

Orgelwerke

3 CDs, 84-seitiges Booklet (D/E/F)

Verlag/Label: Motette MOT 3CD 14001 (2014)
erschienen in: organ 2015/01 , Seite 56

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Mit der Dreier-CD-Box von César Francks Orgelwerken stellt der Motette-Verlag eine Wieder-/Neuauflage der bereits 1991 aufgenommen Einzel-CDs mit Daniel Roth vor. Die Aufnahmen entstanden an den Aristide-Cavaillé-Coll-Orgeln der Kathedrale von Saint-Brieuc in der Bretagne (einem frühen Instrument aus dem Jahre 1847, das vom Erbauer 1872 noch einmal verändert wurde), an dem legendären Pa­riser Großinstrument von Saint-Sulpice (1862), an dem Daniel Roth selbst seit 1985 als Titulaire wirkt, und an der Orgel von Santa María del Coro in San Sebastián aus dem Jahr 1863. 
Die Auswahl der Orgeln kann als kongenial zur musikalischen Entwicklung César Francks bezeichnet werden. Die Stilistika der verschiedenen Schaffensperioden Cavaillé-Colls und ihrer speziellen klanglichen Eigenschaften, ihrer Dispositionsweise und technischen Besonderheiten gehen einher mit den Abschnitten von Francks kompositorischem Schaffen und seiner eigenen Erfahrung mit den Instrumenten des Pariser Orgelbauers, an denen er konzertierte oder als Organist tätig war.  
Dieses Korrespondieren zwischen den epochalen Neuerungen im Orgelbau durch Aristide Cavaillé-Coll in seinen verschiedenen Schaffensperioden und parallel dazu den Kompositionen Francks mit ihren explizit notierten Registrierungsanweisungen erscheint geradezu symptomatisch für diese Zeit gewesen zu sein, als Orgelbau und Orgelkomposition eine wahre Symbiose eingingen. Abgesehen von den technischen Neuerungen, die Spiel und effektvolles Registrieren an monumentalen Großorgeln überhaupt in diesem Maße ermöglichten, inspirierten die Orgeln Cavaillé-Colls in ihrer opulenten Klangpracht orches­trale und symphonische Satztechniken zu Neukompositionen für das meist funktional-sakral geprägte Instrument Orgel. 
Auf der ersten CD beginnt Roth mit einer Pièce an la majeur aus dem Jahr 1854, eines der großen Werke, das vor der bekannten ersten Sammlung Six Pièces entstand, gespielt auf der Orgel von Saint-Brieuc, die damit auch den Reigen der unbekannteren und seltener zu hörenden Stü-cke eröffnet, welche Roth neben den berühmten großen Orgelwerken Francks aufgenommen hat. Es folgen, gespielt an der „Schwesterorgel“ zu Ste. Clotilde, der Orgel in San Sebastián, das Franck’sche Erstlingsdruckwerk An­dante en sol mineur sowie zwei Werke aus den sogenannten Pièces posthumes und die „Fantaisie en do majeur“ op. 16 aus den Six Pièces. Roth spielt Letztere in der traditionell überlieferten Fassung. Die CD wird mit der ersten Orgelsymphonie aus französischer Feder, der Grande Pièce Symphonique op. 17 (1863) beschlossen, die ja zeitgleich mit der symphonischen Fantasie „Ad nos …“ seines späteren (1866) Freundes Franz Liszt entstand und sozusagen der Startschuss für die Orgelsymphonie der Romantik wurde.
Auf der zweiten CD folgen Prélude, Fugue et Variation op. 18 (1864), in der die unendlich zarte Hautbois der Orgel von San Sebastián erklingt, wohl genau so, wie Francks originales Pendant in Ste. Clotilde vor der Schwellwerksvergrößerung durch Tournemire laut Ohrenzeugen geklungen haben mag. Es folgen weitere Stücke aus den Six Pièces: „Pastorale“ op. 19 (1863), „Prière“ op. 20 (in Saint-Brieuc aufgenommen; hier lässt die Stimmungsart dieses frühen Cavaillé-Coll-Instruments durchaus aufhorchen: Man hört deutlich, dass das Instrument nicht gleichschwebend gestimmt ist) und „Final“ op. 21 (1867) zusammen mit der „Fantaisie en la“ aus den Trois Pièces und unterbrochen durch das sehr interessante Offertoire sur un Noël breton, das wiederum in San Sebastián erklingt.
Die letzte CD schließt den Kreis mit „Cantabile“ und „Pièce héroïque“ aus den Trois Pièces, an der Orgel in Saint-Brieuc aufgenommen, drei kleineren Offertoires, die in San Sebastián erklingen, und den Trois Chorales in der Aufnahme aus Saint-Sulpice.
Im Spiel Daniel Roths begegnen sich Welten in mehrfacher Hinsicht: waren doch César Franck als der Begründer der fantastisch-improvisatorischen Schule von Ste. Clotilde und Charles-Marie Widor als der Vertreter der virtuosen, eher formal-klassischen symphonischen Schule von St. Sulpice eigentlich Antipoden, deren Erbe durch die jewei­ligen Nachfolger in gegensätzlicher Weise eher noch vertieft wurde. So unterscheidet sich Roths Franck-Auffassung grundsätzlich von der seines Amtsvorgängers Marcel Duprè, der gar nicht wollte, dass man von Franck Musik „zu viel Aufhebens“ machte, und diese Musik eher unterkühlt musiziert und neoklassisch registriert haben wollte. 
Roth setzt hier ganz andere Maßstäbe, nicht zuletzt durch seine in der Interpretation „Alter Musik“ informierte Spielweise, die, so finde ich, genauso essenziell für die werkgerechte Aufführung romantischer Musik. Erstaunlicherweise ist Roth sehr von der Tradition von Ste. Clotilde und ihrer tradierten Spielweise beeinflusst. Manchmal bringt er die agogische Dehnbarkeit des Takts leicht übertrieben bis an seine Grenzen; selten nur passiert es, dass er sich an Stellen, die vom musikalischen Fluss her eigentlich in Fahrt kommen sollten, etwas ausbremst und ein unmotiviert erscheinendes Rubato plat­ziert. 
Seine Textkritik nimmt eine reflektierte und durchaus auch persönliche Auswahl aus den im Notentext durchaus unterschiedlichen Quellen: Manuskript, Francks Exemplar mit eigenen Eintragungen für die Trocadero-Orgel, Durand I und II und Mayens-Couvreur; das Gleiche gilt für den Gebrauch der notes communes. 
Insgesamt atmet Roths Musizieren den musikalischen Ausdruck einer großartigen Künstlerpersönlichkeit auf dem Höhepunkt ihrer Meisterschaft. In großer Ruhe ausmusiziert, kommt mir Roths großes Vorbild Albert Schweitzer in den Sinn, der doch in der Musik eine umfassend verständliche und im humanitären Sinne verständigende Sprache sah.
Die Wahl der Instrumente und der Stücke aus dem unbekannteren Œuvre des Komponisten ist, wie oben bereits beschrieben, äußerst überzeugend gelungen. Das Book­let der vorherigen Einzelausgaben wurde komplett neu revidiert und der Textteil von Christiane Strucken-Paland kompetent und doch leicht verständlich neu verfasst. Eine klare, dem Raumeindruck nachspürende Aufnahmetechnik vervollständigt diese Preziose. 
 
Stefan Kagl