Rihm, Wolfgang

Orgelwerke

Verlag/Label: Wergo WER 67512 (2012)
erschienen in: organ 2012/02 , Seite 54

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Was tut ein 15-jähriger Schüler, der sich zum Orchester-Kompo­nisten berufen fühlt, jedoch (noch) nicht über die praktischen Realisationsmittel dazu verfügt? Er nutzt eine große orchestrale Orgel zur Übung im Umgang mit großen Klangmassen … Wolfgang Rihms von 1967 bis 1974 geschriebene Kompositionen für Orgel sind wohl aus solchen Impulsen heraus entstanden, und bezeichnend ist, dass Rihm auf dieses Instrument, das retrospektive Bann, Nachtschwärmerei von 1980 ausgenommen, später nicht mehr zurückkam. Wo er nun, mit Orchesterstücken wie Dis-Kontur, in der Öffentlichkeit musikalische Ausdrucksgewalt gestalten konnte, da hatte er zuvor etwa in der Fantasie von 1968 mit den Mitteln der Orgel gewaltsame Wendungen und eine Musik „frenetischen Endes“ angestrebt. Mit aggressiven Gesten überfällt auch (die gleichwohl konstruktiv verfahrende) Siebengestalt für Orgel und Tamtam den Hörer, verdichtet sich freilich im Mittelteil zu einem intrikaten Triosatz. Weitere Kompositionen aus Rihms Frühzeit, Contemplatio und die Drei Fantasien von 1967, wirken ebenfalls vergleichsweise ge­zügelt. Sanglich ruhig begegnen sie dem Hörer auf weiten Strecken, und man vermeint die textlosen Verszeilen eines Kirchenlieds oder gregorianisches Melos zu mitzuerleben.
Eine doch sehr eigenwillige klangliche Realisation, die sich der Komponist selbst wohl nicht hätte träumen lassen, finden die genannten Orgelwerke in ihrer Einspielung durch Dominik Susteck auf der Peter-Orgel, die sein Vorgänger Peter Bares für die Kunst-Station Sankt Peter Köln disponierte. In einigen Frühwerken Rihms sind französische Vorbilder des 20. Jahrhunderts, zumal Messiaen, unverkennbar, und in Sinfoniae I – Messe für Orgel beschwört der Komponist die Geister von französischen Orgelmessen und Orgelsinfonie. Die Orgel der Kunst-Station ist dagegen im Kern neobarock ausgerichtet und vor allem, nach den Vorstellungen von Peter Bares, in ihren neuzeitlichen Weiterungen gar nicht so sehr sakral orientiert, sondern in Einzelaspekten auch auf die Kinoorgeln des 20. Jahrhunderts hin, worauf das Saxofon-Register und zahlreiche Schlagwerkregister hindeuten. Sehr zahlreiche scharfe Obertonregister, die die Orgel „dissonanzfähig“ machen, und Spiel­hilfen wie Tastenfesseln und Winddrosseln dienen zudem einer systematischen Erweiterung des Klangspektrums, wie es György Ligeti in seinem Vortrag „Was erwartet der Komponist der Gegenwart von der Orgel?“ einst im Jahre 1968 gefordert hatte …
Solche Möglichkeiten speziell dieses eher atypischen Instruments kommen vor allem der Interpreta­tion von Rihms Bann, Nachtschwärmerei zugute. Es ist in Gestalt einer „erstarrten Suite“ eine Reminiszenz an Orgelfantasien zu nächtlicher Stunde in unheimlichen, dunklen Kirchenräumen … Dominik Sus­teck macht sich hier offenbar ein Vergnügen daraus, mit den Mitteln des Kölner Instruments sinistre, gespenstische fahle und wimmernde Klänge zu gestalten sowie dazwischen derbes Gepolter wie von spukenden Geistern.

Gerhard Dietel