Schneider, Enjott

Orgelsinfonie No. 16 „Martin Luther“

Verlag/Label: Schott Music ED 22668
erschienen in: organ 2017/02 , Seite 63

Uraufgeführt wurde Enjott Schneiders Orgelsinfonie No. 16 Martin Luther am 27. Oktober 2016 in der evangelischen Trinitatiskirche Köln durch den Widmungsträger Johannes Quack. In den fünf Sätzen versucht der Komponist „eine Annäherung an Martin Luther“ und dessen Lebensleistung, die für ihn insbesondere „von Rätseln und Widersprüchen durchzogen“ ist.
Mit dem 1. Satz „Wir glauben all an einen Gott“ skizziert Schneider „die Spannweite der lutherischen Emotionalität zwischen Mittelalter und Neuzeit“. Über einem in sich ruhenden Bordunklang intoniert eine „sehr freiheitlich“ zu spielende „Vogelstimme“ (nur 4’). Unvermittelt wird diese von „irritierend energischen“ Klopfgeräuschen („mit Hammer und Holz“) überlagert und schließlich unterbrochen, notabene als Erinnerung „an das Anschlagen der 95 Thesen an die Wittenberger Kirchentüre“! Nach dreimaliger Wiederholung der Formabfolge übernimmt zuletzt die Orgel das eindringliche rhythmische Klopfmotiv leicht modifiziert in tiefer Lage, auf einem Ton perkussiv repetierend. Sodann kontrastieren dazu „im Vordergrund“ aus der ersten Choralzeile entlehnte melodische Bausteine und pianissimo tremolierende Klangflächen. Deutliche Gliederung verbürgt die symphonische Steigerung ins fff, ausgehend von einem orches­­tralen grundstimmigen Streicherklang bei gleichzeitiger Beschleunigung des metrischen Pulses. Subito calmo, mit Klarinette als Solostimme, stellt Schneider eine Verbindung zur quintolenartigen Kanti­lene des Anfangs her. „Auf Luthers Robustheit und Vitalität verweisend“, wird anschließend die Choralmelodie in einem „fast derben mittelalterlichen Saltarello“ teilweise durchgeführt. „Luthers ,Rose‘“ ist der 2. Satz betitelt, dem, analog zur Fünfblättrigkeit der „Lutherrose“, vorwiegend ein „poetisch fließender“ 5/8-Takt zugrunde liegt. Dabei sollen die spezifischen thematischen und figuralen Gruppierungen ohne stufenlose Übergänge mit zarten Oberton- und Aliquotmischungen auf die einzelnen Werke (Hauptwerk, Positiv und Schwellwerk) verteilt werden. Idealerweise lässt sich auf einem vierten Manual (Echowerk) weitergehend dynamisch differenzieren.
Erinnernd an „die Allgegenwärtigkeit von Tod und Sterben“ in der damaligen spätmittelalterlichen Zeit entwickelt Schneider im dritten Satz Luthers Choral „Mitten wir im Leben sind“ zum Furioso eines grotesken Totentanzes. Sehr tiefe Cluster, vivo possibile in Achteln gespielt (mind. 320!), bereiten auf effektvolle Weise den Abschluss des als Perpetuum Mobile gestalteten 4. Satzes vor: Choralisch-breiten Akkordverbindungen im dreifachen Forte ist das Bekenntnis Luthers „Gott helfe mir. Amen“ unterlegt. Der Finalsatz greift die „Marseiller Hymne der Reforma­tion“ (Heinrich Heine), das Lied Ein feste Burg, auf. Pure Spielfreude an virtuosem Laufwerk bringt Enjott Schneider in eine klare Form und linearen Zusammenhang zur Melodie. Deren „Vogelstimmenversion“ zeigt den „Freiheitsgedanken des Christmenschen“.

Jürgen Geiger