Orgelmusik aus der Frauenkirche Görlitz

Werke von J. S. Bach, Joseph Haydn, Christian Heinrich Rinck, Felix Mendelssohn Bartholdy und Joseph Gabriel Rheinberger

Verlag/Label: SimReal. SM 091001 (2009)
erschienen in: organ 2010/01 , Seite 58

Bewertung: 4 Pfeifen

Der Musiköffentlichkeit bekannt ist der aus Nürnberg gebürtige Kantorensohn Matthias Grünert als der – seit 2005 amtierende – erste Kantor der wieder erstandenen Dresdner Frauenkirche. Als solcher ist er qua Amt zuletzt verantwortlich für die Gesamtheit der musikalischen Aktivitäten an dem weltberühmten Gotteshaus. Ähnlich wie an der benachbarten Kreuzkirche oder an St. Thomas zu Leipzig versehen an dem traditionsreichen lutherischen Gotteshaus zwei hauptamtlich bestallte Kirchenmusiker ihren Dienst. Auch wenn Grünert offiziell zwar nicht als „Frauenorganist“ amtiert – dieses Amt bekleidet aktuell der 1968 in Stuttgart geborene Samuel Kummer –, so ist er dem königlichen Instrument von Anbeginn seiner künstlerischen Laufbahn an (Konzertfachstudium Orgel in Bayreuth und Lübeck) jedoch auf das Engste verbunden.
Bereits 2003 führ­te er als Stadtkantor im thüringischen Greiz in der dortigen St.-Marien-Kirche u. a. das gesamte Orgelwerk von J. S. Bach auf und bekleidet seit dem WS 2008/09 auch einen Lehrauftrag für künstlerisches Orgelspiel an der Dresdner Hochschule für Kirchenmusik. Was seine berufliche Qua­lifikation und musikalische Provenienz betrifft, sitzt Grünert folglich in beiden Gebieten gleichermaßen firm im Sattel. Dies dokumentieren diverse Auszeichnungen ebenso wie eine vielseitige Diskografie. Mit seinen beiden CD-Kollektionen Orgel­träume (2006/08) hatte er sich bereits für die Orgelkultur in Mitteldeutschland stark gemacht, und auch seine jüngste Einspielung ist dort entstanden. Und zwar nicht an seiner illustren Wirkungsstätte in Dresden, sondern in der Görlitzer Frauenkirche, einer weit weniger spektakulären ostsächsischen „Namensvetterin“ in der Niederlausitz.
Das dreimanualige Görlitzer Werk, auf mechanischer Schleiflade, wurde 1971 von der Werkstatt Schuster aus Zittau (Sachsen) erbaut. Grünert hat für seine Görlitzer Einspielung ein kurzweiliges Programm mit Or­gelstücken aus Barock, Klassik und (Früh-) Romantik zusammengestellt, und zwar – gewollt oder eher zufällig? – ohne einen explizit geistlich-religiösen Bezug.
Aus dem Jahre 1905 datiert das Reger-Diktum „Johann Sebastian Bach ist für mich Anfang und Ende aller Musik!“. Die Reger’sche Maxime wortwörtlich nehmend, rahmt Grü­nert sein CD-Programm mit Bach. Am Anfang erklingt gravitätisch dessen ernstes Präludium und Fuge c-Moll (BWV 546) und zeugt bereits vom raffinierten Sensus des Interpreten für Klänge. Mit Bachs vielleicht eigensinnigstem und zugleich auch fragwürdigen und in der Bach-Forschung nach wie vor umstrittenen organistischen Machwerk, der Toccata („Epidemische“) und Fuge d-Moll (BWV 565) endet die CD. Die Wahl dieses abgeschmackten, weil diskografisch hoff­nungslos überstrapazierten und kon­sumistisch-kommerziell ausgebeuteten Opusculus (Bachs?) mag den einen oder anderen zunächst und zu Recht abschrecken, würde Grünert die Situation nicht durch sein absolut überlegenenes Spiel als rund­um fantasievoll agierender Interpret retten. Über manche partiturbedingte Schwäche des Stücks spielt er bravourös hinweg und arbeitet gegen billige Binneneffekte den Gesamtbogen des Werks mit seinen streicheraffinen Idiomen heraus.
Zwar hat das nunmehr hinter uns liegende Haydn-Jahr 2009 den ewig im Schlagschatten seiner genialen Schüler Mozart und Beethoven stehenden Mitbegründer der Wiener Klassik wieder ein wenig in den Fokus verdienter musikfeuilletonis­tischen Betrachtung gerückt – in der Orgelwelt spielt er nach wie vor bei Konzertplanungen bzw. auch diskografisch kaum eine Rolle. Umso verdienstvoller nimmt sich Grünerts Einspielung von fünf Orgelminiaturen aus den Flötenuhrstü­cken (Hob. XIX No. 1-32) aus, da­runter neben drei klassischen Menuetten auch ein augenzwinkerndes als „Der Kaffeeklatsch“ betiteltes Kabinettstückchen im rasanten Vivace-Tempo. Durch sein sinnliches, nuancenreiches Spiel macht Grü­nert jedwede mechanisch-hölzerne Anmutung vergessen und modelliert die grazile Musik fantasievoll-charmant bis in kleinste artikulatorische Details hinein.
Mit dessen dreisätzigem F-Dur-Konzert huldigt der Interpret dem heute zu Unrecht unterbewerteten, aus Thüringen stammenden Chris­tian Heinrich Rinck (1770-1846), indem er in bester italienischer Concerto-Manier einen konturenreichen Tutti-Solokontrast, hie mit vollgriffigem Plenumspiel, da mit lichten Diskantflöten – und sentimentalischer Tremulantfärbung im Adagio-Mittelsatz – gestaltet. Mit Mendelssohn kommt im „Finale“ ein weiterer mit Mitteldeutschland eng verbundener Komponist zum Zuge. Grünert interpretiert dessen zweite c-Moll-Sonate mit der nötigen Verve, wählt insgesamt zügige Tempi und taucht den Kopfsatz in ein silbrig-festliches Licht; die auf Transparenz abzielende Registrierung begünstigt die kontrapunktische Faktur der packend gestalteten Schlussfuge.
Das Klangbild der im nachhallfreudigen Raum der hohen dreischiffigen gotischen Halle an sich recht farbig und kräftig klingenden Orgel gerät an einigen Stellen gleichwohl ein wenig diffus. Dabei ist nicht klar auszumachen ist, ob derlei Irritationen vom Instrument selbst her­rüh­ren oder aufnahmetechnischem Un­vermögen geschuldet sind – oder womöglich in der komplexen Raumakustik und der eigentümlichen Nachhallsituation (Interferenzen) ihre Erklärung finden. In der Regel müssten derartige „Klirrgeräusche“ heute nicht mehr sein – und vom Hörer demgemäß auch nicht hingenommen werden. Dafür entschädigt – ein wenig – das ebenso lesenswerte wie editorisch ansprechende CD-Booklet.


Wolfram Adolph