Orgelmusik am Wiener Hof
Werke von Georg und Gottlieb Muffat
Bewertung: 4 Pfeifen
Der Orgelmusik des süddeutsch-österreichischen Stilkreises haftet bis in unsere Gegenwart ein bisweilen exotisches Moment an. Gewiss, man kennt die wesentlichen Komponistennamen, aber die Kompositionen selbst haben nie einen ähnlichen Rang bezüglich des Repertoirewerts erlangt wie gleichzeitig entstandene Kompositionen etwa der nord- oder auch mitteldeutschen Schule. Die sparsame Verwendung des (begrenzten) Pedals mochte in der Vergangenheit dazu beigetragen haben, in dieser Gebrauchsmusik Prima-Vista-Literatur des sakralen, klösterlichen Umfelds zu sehen, die einer Behandlung im Kontext eines Hochschulunterrichts nicht lohnte.
Erfreulicherweise bezeugen viele neuere Aufnahmen das Gegenteil. Den beiden vorliegenden CDs Orgelmusik am Wiener Hof darf dabei ein besonderes Gewicht zugesprochen werden. Sowohl die Auswahl an durchweg gewichtigen Musikwerken wie auch die Wahl zweier exzellenter historischer Instrumente garantieren ein eindruckvolles Hörerlebnis. Schon die ersten Takte von Frobergers Toccata FbWV 103 hinterlassen den Eindruck einer großen Musik, die einem Dieterich Buxtehude in nichts nachsteht, wozu auch die opulente Festorgel der Stiftskirche Klosterneuburg bei Wien entscheidend beiträgt. Die ausgewählten Werke von Froberger (Ricercar FbWV 405, Fantasia FbWV 204, Ricercar FbWV 411, Toccata FbWV 102, Capriccio FbWV 505, Toccata FbWV 105 Capriccio FbWV 516) und Johann Caspar Kerll (Magnificat quarti toni, Toccata IV, Canzona in d, Ricercata in cylindrum phonotacticum transferanda, Toccata V und die Passacaglia) bieten einen schönen, repräsentativen Querschnitt durch das Schaffen der beiden Komponisten. Den Abschluss bildet Muffats Toccata I, die in ihrem archaischen Duktus repräsentativ für den Toccatenzyklus des Apparatus und problemlos auf einem mitteltönig gestimmten Instrument darstellbar ist.
Jeremy Joseph setzt als Interpret auf metrische Stringenz, an den richtigen Stellen auch auf organistische Virtuosität, und nutzt die Farbigkeit des einzigartigen Instruments gebührend. Neben den ausgesprochen gelungenen Interpretationen mag an der einen oder anderen Stelle auch ein Wunsch offen bleiben. So trägt die große Plenumsregistrierung am Beginn der Muffat-Toccata nicht unbedingt zur klanglichen Transparenz bei.
Ebenso wie Jeremy Joseph verfügt auch Wolfgang Kogert bei der Gestaltung der Musik von Georg und Gottlieb Muffat über hohe Stilsicherheit und aufführungspraktische Kompetenz. Im Vergleich beider Organisten verharrt Joseph jedoch bisweilen im Bereich allzu glatter Unverbindlichkeit. Hier hätte hin und wieder etwas mehr Espressivo, zumal bei unerwarteten Harmoniewechseln, sicher nicht geschadet; den einen oder anderen Triller hätte man sich etwas weniger mechanistisch bzw. manches passaggio doppio mit etwas mehr Flexibilität im Tempo vorstellen können.
Georg Muffat bildet eine Art Scharnier zur zweiten CD. An der jüngeren Orgel der Michaelerkirche sind die Toccaten VII / XII und die Passacaglia aufgenommen, dazu einige weniger bekannte Werke Gottlieb Muffats (Kyrie und Gloria aus der Missa in F, Toccata XI sammt sechs Versetl, Toccata und Capriccio XV und Canzona XI). Auch hier passen Musik und Instrument hervorragend zusammen. Kogert registriert nach Anweisungen von
J. B. Samber und erzielt gerade in den Versetln eine schöne Farbigkeit. Enttäuschend gerät dagegen Muffats Passacaglia in einer wenig reizvollen, kaum veränderten Registrierung. Hervorzuheben ist Kogerts geschickter Umgang mit der bekanntermaßen sensiblen Windversorgung der Sieber-Orgel. Maßvolle Registrierungen, elegante, in bestem Sinne cantable Artikulation und gelegentliche Arpeggien bestätigen den in höchstem Maße geistvoll-intelligenten Umgang mit dem Instrument. Gottlieb Muffats Werke können zwar nicht den Anspruch eines organistischen Kompendiums erheben, wie das bei den Toccaten seines (berühmteren) Vaters der Fall ist, überzeugen aber durch Charme und natürliche Spielfreude.
Die Verse zum Magnificat bzw. zur Missa werden klangschön von der Wiener Choralschola gesungen. Diese Praxis ist vorbehaltlos zu begrüßen, da sie die Versetl in den genuinen liturgischen Kontext stellt und eine vom Komponisten nicht intendierte Aneinanderreihung kürzester Sätzchen vermeidet.
Die Ausstattung der CDs ist sehr schön, die Booklettexte liegen in Deutsch, Englisch und Französisch vor. Beide Aufnahmen können wärmstens empfohlen werden, für den beflissenen Orgelfreund wie als geeignete Einsteigeraufnahmen für diesen recht speziellen Stilbereich.
Axel Wilberg