Kern, Carl August (1836–97)

Orgelmagazin

Vor- und Nachspiele für Orgel in sechs Heften

Verlag/Label: Dohr, M-2020-3227-5
erschienen in: organ 2015/04 , Seite 58

Ein Magazin ist ein Magazin ist ein Magazin – nämlich, so verrät es der Duden, ein Lager, ein Aufbewahrungsraum oder natürlich (Wes­ternfans kennen das) auch die Trommel, die John Wayne in Erwartung des nächsten Kampfes im Saloon mit Patronen bestückt. Doch ein Magazin, in dem Orgelwerke gelagert (und abgefeuert?) werden – das ist ungewöhnlich. Aber Carl August Kern wählte für seine Sammlungen gern fantasievolle Na­men, so auch für ähnliches Vorspielmaterial op. 55, genannt Orgelschatz.
Kern wurde in Bobenhausen bei Ulrichstein (Hessen) geboren, erhielt Unterricht in Friedberg und arbeitete als Lehrer und Organist in Villingen, Ilbeshausen, Hartershausen bei Schlitz, Schlitz und Laubach. Dort leitete er auch den Männergesangverein. Mit dem Lau­bacher Stadtpfarrer, Liederdichter und Schriftsteller Georg Christian Dieffenbach verband ihn eine intensive Freundschaft. Von dessen Kinderliedern vertonte Kern über hundert.
Ekkehard Kochs Neuausgabe basiert auf der einzig verfügbaren gedruckten Quelle, erschienen vermutlich nach 1875 bei Hermann Beyer & Söhne in Bad Langensalza. Die sechs Hefte sind mit den Opus-Zahlen 223, 224, 269, 270, 271 und 272 bezeichnet. Die Tinte floss Kern demnach locker aufs Notenblatt. Die insgesamt 86 Stü­cke sind zumeist einseitig. Vor allem die Finalstücke der einzelnen Bände laufen jedoch über mehrere Seiten und dienen oft als „Nachspiel“. Alles präsentiert sich in zwei Systemen, wobei die Unterstimme mal der linken Hand, mal den Füßen zugeordnet ist (Hinweise des Herausgebers).
Kern scheint einen starken Hang zu G-Dur zu haben. Weitaus die Mehrzahl seiner Magazinbestü­ckung ist einfach bekreuzt, nämlich 18, gefolgt von 13 in D-Dur-, zehn in F-, neun in C-Dur, während die Moll-Stücke (u. a. a, e, d, g, c, f) kargend zwischen zwei und vier zählen. Die Grenze der Vorzeichen liegt bei E- bzw. Es-Dur; mehr als vier mutet Kern nicht zu. So kann das Magazin als Sammlung durch die gebräuchlichsten Tonarten dienen, wie sie sich gern auf zahlreichen Spieltischen stapeln – und leider selten einen inneren Zusammenhang mit der jeweiligen Liturgie und dem Proprium herstellen. Zwei Kompositionen immerhin bemühen einen cantus firmus: Allein Gott in der Höh sei Ehr und Lobe den Herren, den mächtigen König.
Die meisten Stücke wollen „Andante. Sanft“ oder ähnlich zelebriert werden. Koch empfiehlt sicherheitshalber, man solle mehr an Halbe als Metrum denken, und hofft damit, einer allzu trägen Darbietung zu entfliehen. Nur die Finalstücke bre­chen aus der üblichen Prägung aus und scheinen die geschwätzige Gemeinde hinausleiten zu wollen – jedenfalls wenn man darauf verzichtet, das Postludium als liturgischen Abschluss des Gottesdienstes zu betrachten, und diese Musik wie im Kaffeehaus oder Kaufhaus (dieses andernorts auch unter „Magazin“ bekannt …) das Hintergrundrauschen bildet.
Grundsätzlich wartet Kern oft mit dick-vollgriffigen Akkorden auf und rettet sich, wenn es langatmig zu werden droht, in kleine Fugen, die sich aber auch bald in die üblichen Klangballungen flüchten (Fuga heißt schließlich Flucht …). Auf ba­rock disponierten Orgeln muss man dringend kleinere Häppchen servieren und der üppigen Akkordik, die Orgeln mit vielen 8-Füßchen und wenig helleren Registern geschuldet ist, eine Diät verpassen.
Sequenzen feiern fröhliche Urstände, davon kann Kern nicht genug kriegen und unterläuft damit alle Kompositionsregeln. Auf der anderen Seite findet man gelegentlich kurze Stücke von gerade mal 16 Takten oder nur zwei Akkoladen; da hapert’s dann mit den Sequenzen mangels Ausbreitungsmöglichkeit.
Man kennt Bachs Vorrede „Wo­rinne einem anfahenden Organisten Anleitung gegeben wird“ – und jeder Kundige weiß, dass diese auch oft einseitigen (natürlich im ganz wörtlichen Sinn) Stücke des Orgelbüchleins so „anfahend“ keineswegs sind. Da ist Kern leichter, aber so leicht nun auch wieder nicht. Die vollgriffigen Klänge müssen erstmal ent-kernt werden, und das Pedal aus einer zweizeiligen Darstellung he­rauszuschälen ist auch nicht gerade Anfängerkönnen.
Das Kern-Magazin könnte man eher in ein Regal legen, das für Finger und Füße (!) geeignet ist, die auch einen vierstimmigen Choralsatz brav und sicher aus dem Choralbuch ins Akustische umsetzen können.
Den Opus-Zahlen nach hat Kern reichlich Notenpapier verbraucht. Freilich – das Orgelmagazin quillt über von mangelnden Einfällen. Alle 86 Stücke sind auf Dauer abwechslungsarm – kennt man zehn, kennt man … Es ist zu hoffen, dass der Komponist diese und andere seiner Sammlungen nicht für zyklische Darbietungen konzipiert hat, sondern sein Lager als Vorratsraum anbietet, dessen man sich haushälterisch bedienen sollte (womit wir wieder beim Anfang wären). Schließlich greift man im Magazin eines weithin verbreiteten schwedischen Möbelgiganten auch nicht hemmungslos in die Regale, sondern nimmt, was man gerade benötigt. Mit dieser Zurückhaltung mag das Kern-Magazin nützlich sein, wohl weniger für hauptamtliche Musiker mit Übefreude für bessere Einfälle. Doch für Feierabendorganisten, die ihre freundlichen Fähigkeiten gern und häufig in den Dienst von Gemeinden stellen, kann Kern ein Objekt der Neigung sein – und sich darum durchaus zur Notenauswahl gesellen.
Jedenfalls – der (Neu-)Druck ist ordentlich und sauber, die wenigen Blätterstellen weitgehend handhabbar. Die Sicherheitsakzidenzien sind nicht immer konsequent eingefügt, jedoch sofort sinnvoll ergänzbar. So mögen echte Liebhaber ja zum Kern der Sache durchdringen – und wenn im Reger-Jahr 2016 ein Tsunami an schwarzen, schwärzeren und schwär­zesten Noten über die Orgeln he­reinbricht, kann man überanstrengte Finger und geschwol­lene Füße zur „recréation“ in Kerns Magazin schi­­cken …

Klaus Uwe Ludwig