Bach, Johann Sebastian

Orgelchoräle der Leipziger Originalhandschrift

Sämtliche Orgelwerke, Band 8, mit CD-ROM

Verlag/Label: Edition Breitkopf 8808
erschienen in: organ 2016/01 , Seite 60

In seinen letzten Lebensjahren kollektierte und sichtete Johann Sebas­tian Bach früher entstandene Werke, um sie einer gründlichen Revision zu unterziehen. So entstand die bekannte Handschrift P271, die außer den Leipziger Orgelchorälen die Sechs Orgelsonaten, die um 1730 eingetragen wurden, und die Erstfassung der Canonischen Veränderungen über das Lied „Vom Himmel hoch da komm ich her“, enthält. Damit endet der von der Musikwissenschaft allgemein anerkannte Kenntnisstand
– alles Weitere befindet sich im Bereich der (mitunter wohlbegründeten) Spekulation, vor allem die in der Bach-Forschung stets drängende Frage nach der Chronologie. Während Peter Williams (1980) sich für den Zeitraum 1744–48 entscheidet, meint Yoshitake Kobayashi, den Beginn des Autografs um 1739/42 ansetzen zu können, der dann – nach einer längeren Phase der Unterbrechung – um 1746/47 vollendet wurde. Eine Sondermeinung vertritt Peter Wollny nach Arbeiten an den Handschriften von Altni­ckol, der für die Niederschrift von BWV 666/67 verantwortlich war, und Johann Christoph Farlau: dass nämlich diese beiden Choräle womöglich erst nach Bachs Tod nachträglich eingefügt worden seien.
Neben der Unmöglichkeit einer gesicherten Chronologie ist die Frage nach den Vorlagen ebenfalls unlösbar: Wie war der Weg der Überlieferung der älteren, meist in Weimar entstandenen Kompositionen, und warum entschied sich Bach für diese Werke? Als Hauptquellen dienen Abschriften von Tobias Bach und Johann Gottfried Walther. Autografe Kompositionen wird es wahrscheinlich nicht mehr geben. Peter Williams vermutet sogar, dass diese frühen Kompositionen zum Teil als Ergänzungen zum Orgelbüchlein gedacht waren, mithin sehr früh entstanden sein müssen.
Auch die Titelgebung des Werks liegt im Dunkeln: Die zunächst freigelassene erste Seite trägt den alten, aber späteren Zusatz „18 Choräle“. Dachte Bach an eine Veröffent­lichung des Gesamtwerks? Dafür spricht, dass er sich diesem Projekt unmittelbar nach der Veröffent­lichung der Clavierübung III. Theil widmete, mithin den Boden für Choralbearbeitungen bereitete. Dagegen spräche, dass sich Bach in seinen Publikationen stets für einen klaren Aufbau entschied. So gibt der dritte Teil der Klavierübung die Bearbeitungen von klassischen Lutherchorälen nach dem Aufbau des Kleinen Katechismus wieder. Hier ist kein überzeugendes Konzept zu erkennen. Hatte die Revision durch den unvorhergesehenen Krankheitsverlauf Bachs noch nicht ihre Endstation erreicht?
Breitkopf veröffentlicht als achten Band der Sämtlichen Orgelwerke nun diese Orgelchoräle der Leipziger Handschrift unter der editorischen Verantwortung von Jean-Claude Zehnder (Basel). Damit löst die Ausgabe die bei Bärenreiter erschienene, von Hans Klotz betreute und mittlerweile in die Jahre gekommene Neue Bach-Ausgabe (NBA) ab. Zehnders Kritik an Klotz geht dahin, dass dieser geirrt hätte, indem er annahm, dass manche abweichenden Lesarten von Bach stammten. Diese Abweichungen entstammen einer heute als wenig zuverlässig eingestuften Abschrift.
Das Schriftbild der Breitkopf-Edition mit ihrem großzügig gestalteten Platz und der Größe der Noten passt sich eher der NBA an denn der Bach-Ausgabe der Edition Peters. Damit ist allerdings auch ein Mehr an Seiten verbunden, die umzublättern sind. Dankenswerterweise hat sich der Verlag entschieden, im Gegensatz zur NBA reine Manualiterpartien nur auf zwei Sys­teme zu verteilen. So braucht die Breitkopf-Edition für die Fantasie über den Choral „Komm, Heiliger Geist, Herre Gott“ nur sieben statt zehn Seiten (NBA). Dagegen hat die NBA den Vorteil, dass die zugrunde gelegten Choräle am Anfang der Kompositionen stehen – bei der Breitkopf-Edition fehlen sie.
Fast schon zum Standard gehören dem Notenband beigefügte CD-Rs mit verschiedenen Fassungen diverser Orgelchoräle. Insgesamt löst die Breitkopf-Edition die Neue Bach-Ausgabe (einstweilen) ab. Sie stellt den letzten, aktuellen Stand der Bach-Forschung dar, womit diese Ausgabe für jeden philologisch interessierten Interpreten unverzichtbar wird. Ein Manko: das Fehlen der Choralvorlagen, was indes leicht zu verschmerzen ist, handelt es sich doch um Lieder, die auch heute in Gebrauch sind und sich im Evangelischen Gesangbuch finden lassen.

Volker Ellenberger