Heinemann, Michael / Birger Petersen (Hg.)

Orgelbewegung und Spätromantik

Orgelmusik zwischen den Weltkriegen in Deutschland, Österreich und der Schweiz

Verlag/Label: Dr. J. Butz, Bonn 2017, 280 Seiten, 19 Euro
erschienen in: organ 2017/03 , Seite 51

The Roaring Twenties und die nicht minder brodelnden 1930er Jahre bilden laut Buchtitel die Hintergrundfolie dieser Sammlung von Aufsätzen aus der Feder von Gottfried Allmer, Jan Boecker, Michael Heinemann, Marco Lemme, Thomas Lipski, Gerhard Luchterhandt, Rainer Mohrs, Birger Petersen und Stefan Reißig. Entstanden ist somit ein buntes, kaleidoskopartiges Mosaik, keine Gesamtdarstellung. Die Fokussierung auf die Zwischenkriegszeit wird kaum durchgehalten, weil die Linien inhaltlich (Reger-Nachfolge, Orgelbewegungen, Orgelbau) sinnentsprechend bis in die 1960er ausgezogen werden müssen.
Sieben Orgellandschaften gewinnen Gestalt durch einen einleitenden Überblicksartikel und sodann durch ausgewählte Einzelporträts – Nord­deutschland: Hans Henny Jahnn, Hugo Distler, Hans Friedrich Micheelsen; Sachsen und Thü­ringen: Sigfrid Karg-Elert, Hans Fährmann, Camillo Schumann, Johann Nepomuk David; Berlin: Paul Hindemith, Ernst Pepping, Joseph Ahrens; Rheinland und Westfalen: Hermann Schroeder, Gerard Bunk; Südwestdeutschland: Helmut Bornefeld, Joseph Haas; Österreich: Franz Schmidt, Ernst Kr?enek; Schweiz: Willy Burkhard. Glänzend geschriebene Komponistenbilder mit ständiger analytischer Rückbindung an die entscheidenden Or­gelwerke (kompositorisch wie orgelbauästhetisch und -technisch) verdeutlichen die markanten Entwicklungssprünge zwischen den Polen Tradition und Avantgarde – wahrlich eine hochspannende Zeit mit heftigs­tem Ringen um existenzielle künstlerische Sinndeutung mit widersprüchlichs­ten Ansätzen und Aussagen. Demgegenüber fallen die Überblicke blasser, weil vergleichsweise flächig und substanzarm gehalten, aus – ein Rückgriff auf vorhandene Personen- und Werklisten (etwa im Reperto­rium Orgelmusik 1150-2000, Schott Music, Mainz, 3. Aufl. 2001) hätte hier leicht für Konkretisierung und Komplettierung sorgen können (völ­lig unterbelichtet bleibt bedauer­licherweise die Großregion Rheinland-Westfalen ohne Franke, Middelschulte, Beckmann, Schweich, Sattler, Schröder, Unger, Heinermann, Humpert …).
Der Band informiert mit einer Fülle wissenswerter Einzelheiten, wobei Aktualität und Vollständigkeit der verzeichneten Literatur hervorzuheben sind. Bei solch zahl- und detailreichen Informationen stehen am Ende Fragen im Raum: Was bleibt überhaupt? Gibt es Gewinn oder Verlust resp. Gewinner oder Verlierer? Waren oder sind die kulturellen „Erben“ undankbar oder unverständig …? Die hiermit vorliegende lose Aufsatzsammlung weist jedenfalls bestens aus, worum es gegangen ist bzw. worum es, wie es scheint, heute und zukünftig immer noch geht. Die in sich inhomogene Orgelmusikkultur braucht Orientierung, hier stehen Positionen zur Verfügung.
Warum 17 halb oder kaum bedruckte Seiten, 22 komplette (!) Leerseiten, 7 Seiten Zwischentitel – rund 15 Prozent vermeidbare bi­bliophile Opulenz zu Lasten der Umwelt? – Stattdessen hätte ein willkommener Index nominum das Lesevergnügen durchaus noch steigern können.

Klaus Beckmann