Scheidemann, Heinrich

Organ Works, Vol. 6

Verlag/Label: Naxos 8.573118 (2013)
erschienen in: organ 2014/01 , Seite 56

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Geboren und ausgebildet in Rio de Janeiro bzw. Brasilien, fortgebil­det in den USA bei dem deutsch-amerikanischen Orgelprofessor Wolfgang Rübsam, präsentiert Julia Brown ein Repertoire der Norddeutschen Schule aus dem zweiten Drittel des 17. Jahrhunderts, gespielt auf einer amerikanischen „Stilkopie“ des norddeutschen Barock: So wird der Hamburger Katharinen-Organist Heinrich Scheidemann zu neuem Leben erweckt. Die sechste Teil­edition ihrer Gesamtaufnahme bietet eine Motettenkolorierung aus der Lüneburger Tabulatur KN 209, den achten der Magnificat-Zyklen und fünf zum Teil mehrsätzige Choraltitel aus Ze1, der ergiebigsten, in Clausthal-Zellerfeld überlieferten Scheidemann-Quelle, ferner zwei kurze (choral)freie Orgelstücke sowie sechs weltliche Clavierwerke (Tanzsätze).
Dass Scheidemann mit seinen zwölf Kolorierungen lateinischer Motetten von Lasso, Haßler, Bassano und Hieronymus Praetorius eine Spätblüte dieser Gattung herausgeführt hat, ist inzwischen bekannt. Julia Brown demonstriert, wie diese lange Zeit von Wissenschaftlern und Praktikern gemiedene Gattung erfolgreich als hörenswerte Mu­sik vermittelt werden kann. Praetorius’ sechsstimmige Motette Benedicam Domino in Scheidemanns instrumentaler Auszierung erhält unter den Händen der Brasilianerin vokal­affine Plastizität – präzise der ursprünglichen Funktion, den abwesenden Chor zu ersetzen, entsprechend. Dabei kommen ihr die weich, aber dennoch zeichnend intonierten Zungen des (inzwischen national wie auch international beachteten) Instruments zugute, dessen Erbauer, John Brombaugh, gerade die Kunst historisch orientierter Herstellung von Zungen 1967/ 1968 in Hamburg bei Rudolf von Beckerath erlernt und anschließend durch weitere Studien vertieft hat.
Beim Magnificat VIII. Toni erhalten nunmehr die Labialstimmen Gelegenheit, ihre hohe vokale, „singende“ Qualität und Individualität unter Beweis zu stellen. Insbesondere in den weit ausschwingenden Linien der Satzeröffnungen nach altem Muster (Gallus Dressler: Exordium nudum; Motus tardior) wird die Kontrapunktik bereits zu einem Klangereignis eigener Art, noch bevor die Solostimme hinzutritt. In einem Punkte wären allerdings Bedenken anzumelden: Scheidemann bietet bereits eine komplett ausnotierte kolorierte Diskantlinie – wenn nun die Interpretin nochmals Ornamentierungen nach eigenem Gusto hinzufügt, kann das rasch auch zu viel des Guten sein. Eine Kuriosität dieser (8.) Magnificat-Bearbeitung scheint bisher niemandem aufgefallen zu sein: die mittlere Strecke „in Deo“ wird in den Versus I-II viertönig a° c’ d’ c’, das heißt in anderem Tonhöhenverlauf zitiert als in den Versus III-IV (5 Töne: c’ h° c’ d’ c’).
So hübsch das Porträt der Interpretin die Rückseite des schmalen Booklets auch zieren mag – die Registrierungen der Stücke wären gewiss auch für ein sicheres Verstehen der Darbietungen hilfreich gewesen.

Klaus Beckmann