Mendelssohn Bartholdy, Felix

Organ Sonatas

Verlag/Label: Loft Recordings LRCD-1112 (2009)
erschienen in: organ 2010/04 , Seite 52

Bewertung: 4 Pfeifen

Der in England ausgebildete, jetzt in den USA wirkende Konzertor­ga­nist Jonathan Dimmock hat ein prominentes Orgelwerk des süddeutschen Spätbarock als Instrument für seine Einspielung der Sechs Orgelsonaten von Felix Mendelssohn Bartholdy (1809-47) ausgewählt. Die Weißenauer Holzhey-Orgel wurde erst kürzlich von der Dillinger Orgelbauwerkstatt Sandtner vorbildlich restauriert. Da sämtliche historischen Zungen Holzheys im Laufe der Zeit verschwunden waren, muss­ten diese rekonstruiert werden; als Vorbilder dafür dienten Zungenpfeifen von Karl Joseph Riepp. Die Restaurierung erscheint bestens gelungen zu sein, denn heute klingt die Orgel mit ihren charakteristischen, lyrischen oder kernigen Einzelregistern und mit ihrem heroischen, ein wenig „frankophonen“ Grand Plein Jeu kulinarisch wie ein verspätetes barockes bzw. frühklassizistisches Opus aus den Häusern Cliquot-Cavaillé-Coll …
Und Dimmock versteht es, den Registerfundus der Orgel wirkungsvoll, der Faktur der Mendelssohn-Sonaten gegenüber angemessen zu „inszenieren“. Dazu gehört der solistische Einsatz von Zungenregis­tern in einem Ausmaß, welches auf den meisten süd- oder mitteldeutschen Orgel wegen der hier häufig obwaltenden Zungenarmut nur selten oder sehr begrenzt möglich ist. Dies dürfte jedoch ganz im Sinne Mendelssohns sein, der angelegentlich seiner zahlreichen England-Rei­sen um 1830/40 einen Orgeltyp nebst Orgelspiel kennen gelernt hat, die mit derartigen Effektregistrierungen rechneten. Bereits aus diesem Aspekt heraus lohnt es sich gewiss diese Aufnahme anzuhören.
Jonathan Dimmock ist ein brillanter Organist. So bewältigt er etwa die nicht zu gering einzuschätzenden spieltechnischen Ansprüche der Sonate IV perfekt – und er spielt für einen Musiker der „orchestralen“ britischen Organistentradition erstaunlich facettenreich. Trotzdem lässt seine Interpretationsart gewisse rhetorische Parameter vermissen: etwa den Sinn für das fein gestalterische „Nachhören“ und das bewusst-konzentrierte Ausklingenlassen musikalischer Spannungslinien im Raum (z. B. im 2. Satz der So­nate I), das artikulatorische Strukturieren (z. B. Schlussfuge der Sonate II oder 3. Satz der Sonate VI), die Schwer-/Leicht-Gewichtung von Vorhaltsakkorden und deren Auflösung (z. B. 1. Satz der Sonate III), oder der kreative Umgang mit Orgelklängen gleicher Registrierung (z. B. 1. Satz der Sonate VI, letzte Variation: die zu langen nachschlagenden Akkorde klingen eben deshalb im Verhältnis zu den Spitzen­tönen der vorangegangen Sechzehn­tel-Kaskaden zu laut!). Den interpretatorischen Tiefpunkt der CD bildet die überhastet gespielte und mit einem fragwürdigen, eher neo-barock anmutenden Registrierungs­programm überzogene Fuge der Sonate III. Diese Kritikpunkte ändern gleichwohl nichts an dem grundsätzlich hohen künstlerischen Niveau dieser Einspielung, das für eine explizite Kaufempfehlung allemal hinreichende Gründe bietet.
Wolfram Syré