Hindemith, Paul

Organ Sonatas Nos. 1–3 | Eleven Interludes from Ludus Tonalis | Two Organ Pieces

Verlag/Label: Naxos 8.573194 (2014)
erschienen in: organ 2015/01 , Seite 58

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Kirsten Sturm gilt als herausragende deutsche Orgelvirtuosin ihrer Generation. Von 2006 bis 2010 amtierte sie an der römisch-katholischen Kirche zur Heiligen Familie in Frankfurt am Main. Seither lehrt sie an der Hochschule für Kirchenmusik der Diözese Rottenburg-Stuttgart.
Wenn auch kein Organist „vom Fach“, so kannte Paul Hindemith doch die Bestrebungen der Orgelbewegung, die sich auf die Prinzipien des alten Orgelbaus rückbesann. Auch die Bemühungen um eine historisch orientierte Aufführungspraxis fanden sein Interesse (er selbst spielte unter anderem die Viola d’amore) – wobei er weder das eine noch das andere zum Dogma erhob. Wiewohl er als Komponist wesentlich linear dachte, hielt er die Orgel keineswegs für ein „rein polyphones“ Instrument. Auch spielte ihre geistliche Aura für sein Komponieren keine Rolle; Kirchenchoräle kommen in seiner Orgelmusik nicht vor – dachte er doch konzertant, nicht kirchenmusikalisch oder gar liturgisch. In Fragen der Regis­trierung gab sich Hindemith großzügiger als die meisten Orgelkomponisten seiner Zeit. So heißt es im Vorwort zur 3. Orgelsonate: Spielern, denen Walzen und Jalousieschweller zur Verfügung stünden, stehe es frei, „durch reichere Farbgebung und dynamische Übergänge den Ausdruck über das in den Stärkegradvorschriften angegebene Maß zu verstärken“. Was Hindemith hasste, waren weiche, „schwammig“ klingende Riesenorgeln. Er liebte hingegen, wie er einem Organisten zu verstehen gab, „klare und vernünftige Dispositionen, reine und scharf ausgeprägte Stimmen“.
Worte, die sich Kirsten Sturm zu Herzen nimmt. Ihre Vorliebe gilt den obertonreichen Registern der Sandtner-Orgel (1979) im Dom zu Rottenburg am Neckar. Ihre „Farbgebung“ betont die Konturen. So registriert sie die gegensätzlichen Themen der 1. Sonate komplementär (Streicher – Holzbläser). Den üppigen Farbenpool des Instruments – Rückpositiv, Hauptwerk, Schwellwerk, Brustwerk und Pedal samt Emporenorgel und Chororgel – nutzt sie allenthalben mit Bedacht und Geschmack. 
Seine frühesten Orgelstücke schrieb Hindemith schon 1918 als Soldat an der Westfront. Seine eigentliche „Orgelperiode“ fällt in die Jahre 1937 und 1940, die Zeit also, da er sein Lehrwerk Unterweisung im Tonsatz schrieb, von Goebbels als „atonaler Geräuschemacher“ geschmäht und aus Deutschland vertrieben wurde. Die 1. Orgelsonate (1937) besticht durch fantasievolle Formerfindung, Bewegungsfreude und entspannten Ausklang. Ihr Schwesterwerk trägt kammermusikalische Züge und mündet in eine locker verspielte Fuge. Die dritte, 1940 in den USA entstandene Sonate verwebt altdeutsche Volkslieder zu einem polyphonen Triptychon. 
Als originellen Bonus bietet die CD die gesonderte Ersteinspielung aller Interludien aus Hindemiths Klavierwerk Ludus tonalis (1942): elf Stücke höchst unterschiedlichen Charakters, die den zwölf Fugen des Zyklus als Bindeglieder dienen. Der vielseitige Organist und Musikwissenschaftler Joachim Dorfmüller übertrug sie 1981 stilkundig auf sein Instrument.
 
Lutz Lesle