Jean Langlais

Organ Music, Vol. 1

Giorgio Benati und Fausto Caporali an versch. Orgeln

Verlag/Label: 5 CDs, Brilliant Classics 96877 (2023)
erschienen in: organ - Journal für die Orgel 2023/04 , Seite 61

Bewertung: 4 von 5 Pfeifen

Angesichts seiner Klasse und seiner Bedeutung für die (französische) Orgelmusik ist Jean Langlais (1907– 91) im Vergleich zu seinen Kollegen wie etwa Louis Vierne, Charles-Marie Widor oder Olivier Messiaen auf Tonträgern sträflich unterrepräsentiert. Es gibt zwar einige Einzel-CDs, auf denen zumeist seine bekannteren Orgelwerke zu hören sind, aber bis dato keine Gesamteinspielung, die diesen Namen wirklich verdient. Das Umfänglichste, was hierzu bislang produziert wurde, ist die „Centenary Celebration“-Edition (4 CDs), die 2013 beim Label Motette erschien. Orgelfreunde können sich also glücklich schätzen, dass Brilliant dieses Projekt nun angegangen ist und das Volume 1 zum Start mit gleich fünf CDs in einer Box vorgelegt hat. Es handelt sich durchweg um Neuaufnahmen, was bei diesem Label keine Selbstverständlichkeit ist.
Die Arbeit an diesem Mammut-Projekt teilen sich die beiden italienischen Organisten Fausto Caporali und Giorgio Benati; Letzterer hat noch bei Langlais studiert. Caporali, seines Zeichens auch Komponist, ist (ebenfalls) in der französischen Orgelmusik zuhause und hat zahlreiche Werke etwa von César Franck und Louis Vierne für diverse Labels eingespielt. Da der Booklet-Text sich ganz explizit bei Marie-Louise Langlais, der Witwe des Komponisten, „for advice and help“ bedankt, hat die Box sozusagen den „Segen von ganz oben“. Leider schweigt sich das Booklet darüber aus, nach welchen Kriterien die Werke auf den CDs ausgewählt wurden. Die wichtigsten seien hier genannt: Hommage à Frescobaldi (1951), Suite brève (1947), Talitha Koum (1985), Expressions (1988), 8 Préludes (1984), Suite in simplicitate (1991), 9 Pièces (1942/43), Versets (1986), Organ Book (1956) und 6 Petites Pièces (1976).
Caporali und Benati spielen diese Werke an vier Orgeln ihrer Heimat: der Mascioni-Orgel (1984) im Dom von Cremona, der Ruffatti-Orgel (1960) in der Basilika Santa Maria Assunta in Clusone, der Piero-Sandri-Orgel (2007) in der Pfarrkirche San Paolo in Alte Ceccato und der Diego-Bonato-Orgel (2007) in der Abtei der Kirche Santo Stefano, Isola della Scala. Die auf CD 3 zusätzlich zu den genannten Orgelwerken ebenfalls erklingenden, auf zwei „Bücher“ verteilten 24 Pièces pour harmonium ou orgue (1934–36) spielt Caporali auf zwei verschiedenen historischen Harmonums der Firma Père & Fils, Frankreich, aus den Jahren 1896 bzw. 1897. Freunde historischen Harmonium-Klangs mögen daran vielleicht ihre Freude haben. Ich hätte mir diese Pièces lieber auf einer „richtigen“ Orgel gespielt gewünscht, zumal die beiden Instrumente – bei aller Ehre – nicht wirklich berauschend, sondern ein wenig dumpf klingen. Aber möglicherweise ist es ja gerade das, was hier den besonderen Reiz ausmacht. Die klanglichen Vorzüge des von Karg-Elert bevorzugten Kunstharmoniums sucht man in der vorliegenden Aufnahme vergebens.
Die Auswahl der Orgeln ist dafür umso besser gelungen. Die vier Instrumente, allen voran die herr­liche Mascioni-Orgel des Doms von Cremona, und ihre beiden bestens disponierten Organisten bringen alles mit, um Langlais’ vielschichtige, das Stil-Kleid mitunter wie ein Chamäleon wechselnde, dabei tiefsinnige und immer sehr eigenwillige Klangsprache nach allen „Regis­tern“ der Kunst zu artikulieren. Zum Höhepunkt der Box geraten nach meinem Geschmack die Lesarten der Hommage à Frescobaldi und der 9 Pièces, die Fausto Caporali den Werken auf der Masconi- (Frescobaldi) und der Ruffatti-Orgel (Pièces) angedeihen lässt. Doch auch das großartige Organ Book und die nicht minder unter die Haut gehenden Expressions erfahren durch Giorgio Benati auf der Diego-Bonato- (Book) und der Piero-Sandri-Orgel (Expressions) ebenso luzide wie klangintensive Darstellungen. Da auch die Aufnahmetechnik und Klangqualität der CDs keine Wünsche offen lassen, kann man diesen starken Auftakt der Gesamteinspielung von Jean Langlais’ Orgelwerken nur von ganzem Herzen begrüßen.

Burkhard Schäfer