Becker, René Louis

Organ Music of René Louis Becker (1882-1956), Vol 1/2

Alsatian-American Composer and Organist

Verlag/Label: Raven OAR-925/OAR-949
erschienen in: organ 2015/03 , Seite 61

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Wem ist René Louis Becker als Komponist oder Interpret noch ein Begriff ? Als Sohn und Enkel bedeutender Musiker (sein Vater war u. a. Organist an den Kathedralen von Chartres und Straßburg) wurde er von 1896 bis 1904 am Straßburger Konservatorium bei Ernst Münch, Fritz Blumer (einem Liszt-Schüler), dem Rheinberger-Schüler Carl Somborn sowie bei Adolph Gessner ausgebildet, bis er dann 1904 in die USA emigrierte, um mit seinen älteren Brüdern Lucien und Camille in St. Louis, Missouri, an deren Becker Bros. Conservatory of Music zu lehren. 
Von 1912 bis 1915 war René Louis Becker Organist der St. Peter’s Cathedral in Belleville, Illinois, und wirkte schließlich von 1915 bis 1930 an der St. Peter and Paul Cathedral in Alton, Illinois. Von 1930 bis 1942 war er dann Organist an der Blessed Sacrament Cathedral in Detroit, um danach bis zu seiner Pensionierung als Organist an der St. Alphonsus Church in Dearborn, Michigan zu wirken.
Becker hinterließ eine Vielzahl von Kompositionen, darunter etwa 180 Orgelwerke, wovon etwa die Hälfte zu seinen Lebzeiten bei namhaften Verlagen veröffentlicht wurde. An erster Stelle seien hier seine drei Orgelsonaten genannt, die sich an Widor, Guilmant und Rheinberger anlehnen. Seine kleinformatigeren Einzelwerke (darunter 15 Toccaten, Postludien, 34 Märsche, Cantilenen und zahlreiche Charakterstücke unterschiedlicher Couleur) tragen zum Teil fantasievolle Titel wie Sur le Nil, At Sunrise, Oiseaux Volants, Idylle Angélique oder Crépuscule à l’Orient. 
Beckers Stil verbindet sein in Straßburg erworbenes Erbe der französisch-deutschen Orgeltradition mit weiteren europäischen und natürlich amerikanischen Einflüssen. Er zeichnet sich durch gesanglich-lyrische Melodiegebung, saubere kontrapunktische Arbeit und eine ansprechende Harmonik aus. Einige dieser Werke sind in Internetquellen frei zugänglich, da die Druckausgaben der Verlage in der Regel vergriffen sind. 
Die Organistin Damin Spritzer, Absolventin der Eastman School of Music und des renommierten Oberlin Conservatory in Boston, ist selbst Organistin an der Cathedral Church of Saint Matthew in Dallas und Dozentin an mehreren amerikanischen Universitäten. Sie hat sich auf die Wiederentdeckung unbekannter romantischer Orgelmusik spezialisiert. Ganz besonders liegt ihr die Erforschung der Musik von René Louis Becker am Herzen, hat sie doch 2012 ihre fantastisch recherchierte Doktorarbeit Overview and Introduction to the Organ Music of René Louis Becker, Alsatian-American Composer and Organist, 1882–1956 (University of North Texas, Mai 2012) vorgelegt. 
Als klingendes Ergebnis ihrer Forschungen hat Spritzer auf zwei CDs einen repräsentativen Querschnitt an kürzlich renovierten französischen Referenzorgeln vorgelegt: der Orgel von Saint-Salomon-Saint Gregoire de Pithiviers (Isnard/Cavaillé-Coll 1789/1890) und derjenigen der Kathedrale Sainte-Croix d’Orléans, erbaut 1880 von Aristide Cavaillé-Coll. Sie hat diese Instrumente ausgewählt, weil Beckers Orgelschaffen eher den Wurzeln seiner französisch-deutschen Ausbildung entsprang als denen der anglo-amerikanischen Orgelsymphonik und ihrer Klangidiome. 
Die erste CD beinhaltet neben einer Sortie Solennelle (op. 70), der Cantilena (op. 42), der Toccata (op. 45), der Supplication (op. 81a) und der Marche Triomphale: Ite missa est, auch die 2. und 3. Sonate, deren homophon gehaltene Ecksätze in ihrer gleichförmigen, parallel geführten Akkordik gegenüber den anderen Sätzen und Charakterstü­cken etwas abfallen. Insgesamt sind die eingespielten Stücke aber wirkungsvoll und technisch gut zu bewältigen. Der barocke Ursprung der von Cavaillé-Coll 1890 umgebauten Isnard-Orgel macht sich positiv in einer luziden Durchhörbarkeit bemerkbar. 
Auf der zweiten CD findet sich zuerst eine äußerst mitreißende Zusammenstellung von virtuoseren, spannungs- und wirkungsvollen Toccaten (opp. 69c, 32, 68a), dem Postlude (op. 75a), einem March (op. 76a) sowie der innigen Cantile (op. 63), bevor zwei frühe Stücke aus dem Jahr 1908 in die 1. Sonate (op. 40) von 1912 – als einem der wohl besten Stücke Beckers – überleiten. Bemerkenswert bei fast allen Werken ist Beckers Vorliebe zur dreiteiligen Form A–B–A. Die Wirkung der klangprächtigen Orgel der Kathedrale von Orléans betont die symphonisch-virtuose Färbung der Becker’schen Kompositionen. Damin Spritzer spielt sauber, technisch souverän und musikantisch, wobei ihr die Klarheit der Darstellung wichtiger ist als virtuose Fingerfertigkeit. Dies führt(e) in den akkordlichen Sätzen manchmal dazu, den Ruf des „behäbigen“ Elsässers im übrigen Frankreich zu manifestieren. 
Die Musik, die Instrumente und der Raumklang sind optimal eingefangen und die Aufarbeitung des englischsprachigen Booklets vorbildlich: Komponist, Werke und In­strumente werden bestens beschrieben. Alles in allem eine sehr lohnende Neuentdeckung und Anregung, sich mit dem technisch nicht allzu schweren, aber sehr wirkungsvollen Œuvre von René Louis Be­cker auseinanderzusetzen. Herzlichen Dank an die Interpretin!
 
Stefan Kagl