Johann Schneider / Johann Philipp Kirnberger

Organ Music

Walter Gatti an der Dell’Orto & Lanzini-Orgel der Pfarr­kirche Santa Maria Assunta, Vigliano Biellese (Italien)

Verlag/Label: Brilliant Classics 96752 (2023)
erschienen in: organ - Journal für die Orgel 2023/03 , Seite 62

Bewertung: 4 von 5 Pfeifen

Bei dem überbordenden Angebot von Orgelaufnahmen in unserer Zeit lohnt immer ein Griff zu ausgefallenen Editionen mit kaum oder gar nicht bekanntem Repertoire von Komponisten, deren Namen nicht in vorderster Front der Angebotslis­ten steht. Das bestätigt wieder einmal recht anschaulich die Einspielung des in Turin wirkenden Organisten Walter Gatti. Gleich die ers­ten neun Tracks seiner CD warten mit hörenswerten Entdeckungen auf: Stücken von Johann Schneider (1702–88) aus einer Manuskript­sammlung der Staatsbibliothek zu Berlin.
Aber wer ist Johann Schneider?, wird sich der eine oder andere Orgelliebhaber fragen. Lohnt es sich überhaupt, in diese CD hineinzuhören, wenn es sich hier offensichtlich um einen Kleinmeister handelt? Das Urteil des Rezensenten lautet: Ja, unbedingt, denn Schneiders Musik ist keinesfalls einfach gestrickt, sondern offenbart im bes­ten Sinne die mitteldeutsche Orgeltradition im Umkreis von Bach, zumal der Begriff des „Kleinmeis­ters“ stets eine unzutreffende Despektierlichkeit besitzt und aus der Kunstkritik verbannt werden sollte.
Johann Schneider war übrigens Schüler von Bach in Köthen und später sein Amtskollege als Organist der Leipziger Nikolaikirche. Die auf der CD präsentierten Stücke, Praeludien, ein Trio, eine Fuge und Choralbearbeitungen offenbaren einen gediegenen und bes­tens ausgeformten kontrapunktischen Stil. Diverse thematische Identitäten zu Bach sind unverkennbar.
Auf gleichem Niveau bewegen sich die Werke Johann Philipp Kirnbergers (1721–83). Auch sie stellen eine Entdeckung dar und sind leider kaum oder gar nicht in den gängigen Konzertprogrammen oder im Gottesdienst anzutreffen. Gatti stellt von ihm ausgewählte Choralvorspiele sowie die 8 Fugen für Orgel bzw. ein besaitetes Tasteninstrument vor. Sein Spiel offenbart insgesamt wohl dosierte Artikulation, sensib­len Umgang mit den Klangkombinationen, so dass man mit Freude am Entdecken dieser Welt wenig bekannter Musik lauscht.
Für die Einspielung hat Gatti die 2007 erbaute Orgel (II/24) aus der Werkstatt von Dell’Orto & Lanzini der Pfarrkirche Santa Maria Assunta auserkoren, ein Instrument, das ganz in der thüringisch-sächsischen Tradition steht und nach Werckmeister III temperiert ist. Das war auf jeden Fall eine gute Entscheidung. (Vielleicht hätte er alternativ mit seinem Aufnahmeteam sogar die Reise zu einer mitteldeutschen Orgel wagen können.) Die Orgel besitzt sehr schöne Einzelstimmen, die Gatti delikat einsetzt. Das Organo Pleno entbehrt nicht einer gewissen Schärfe, so dass Gatti es zu Recht bei einer einmaligen Vorstellung, beim Praeludium in g von Schneider, bewenden lässt.
Das Booklet mit nur fünf Textseiten mutet recht spartanisch an und beschränkt sich auf Minimales zu den Komponisten, auf die Disposition der Orgel und Gattis Vita. Auf umfangreiche Kommentare und Detailfotos wurde verzichtet. Trotzdem sei diese Scheibe allen Liebhabern barocker Orgelmusik wärms­tens empfohlen, denn sie hat neben Gattis überzeugender Interpretation einen hohen Repertoirewert.

Felix Friedrich