Merkel, Gustav Adolf (1827–85)

Organ Music

Verlag/Label: Brilliant 95287 (2017)
erschienen in: organ 2017/03 , Seite 50

3 von 5 Pfeifen

Noch vor fünfzig Jahren war die Orgelmusik des 19. Jahrhunderts hierzulande weitgehend „verpönt“ – unter dem Einfluss der an barockisierenden Klangidealen orientierten Orgelbewegung des frühen 20. Jahrhunderts. Inzwischen haben nicht nur Musiker wie J. G. Rheinberger ihren (verdienten) Wiedereinzug in die Ruhmeshalle der Orgelkomponisten feiern können, auch die vermeintlich „kleineren“ Meister finden neuerlich verstärkt Beachtung. Zu ihnen zählt der 1827 in der Oberlausitz geborene Gustav Adolf Merkel, der zeitweilig Komposi­tionsschüler Schumanns war und schließlich in Dresden Fuß fasste: ab 1864 bis zu seinem Tode 1885 als Organist an der (luther.) Kreuzkirche, an der (ka­tholischen) Hofkirche sowie als Lehrer am Königlichen Konservatorium für Musik.
Merkels Orgelschaffen, zumal seine neun Sonaten, genießt noch nicht wieder jenes Ansehen, das es verdient: In den Sonaten verbindet sich altmeisterlicher Kontrapunkt mit einer am Vorbild Mendelssohns orientierten, eher klassizistischen als (früh-)romantischen Klangsprache. Ein Plädoyer für Merkels Orgelmusik hält mit vorliegender Einspielung ausgerechnet ein Italiener: Carlo Guandolino, der derzeit als Organist an San Babila in Mailand tätig ist und dessen Neigung zum deutsch-romantischen Orgelrepertoire sich bereits in einer vorausgegangenen Rheinberger-Einspielung manifestierte.
Für seine Merkel-Interpretationen wählte Guandolino die mit 35 Registern (mit Horizontalzunge) auf zwei Manualen und Pedal nicht allzu opulent disponierte Orgel im Dom von Thiene (Provinz Vicenza), die im Laufe ihrer Geschichte von diversen italienischen Orgelbauern wie Callido, Pugani und Ruffatti umgestaltet wurde und ihre jüngste Renovierung durch die Firma Zanin erhielt (leider sind Angaben zum Instrument im Booklet spärlich).
Im Fokus der Aufnahme stehen mit den Nummern 2 und 6 zwei der Orgelsonaten Merkels, deren große Architekturen Guandolino überzeugend aufspannt, zumal in der Doppelfuge über zwei einzeln eingeführte, dann kombinierte Themen in der g-Moll-Sonate Nr. 2. Mag diese g-Moll-Sonate auch pathetisch aufrauschend beginnen (mit Bachs chromatisch-kühner g-Moll-Fantasia BWV 542 als fernem Vorbild), so erweist sich Merkel doch vor allem als Meister der Innerlichkeit und der andächtigen Versenkung. Einen durchweg leise-verinnerlichten Adagio-Satz von zehn Minuten Dauer enthält nicht nur diese zweite Sonate, sondern auch die sechste, die sogenannte Choralsonate op. 137. In ihr zitiert und verarbeitet Merkel zwei lutherischer Choräle, nämlich „Aus tiefer Not schrei‘ ich zu Dir“, dem bald als lichte Vision „Wie schön leucht’ uns der Morgenstern“ gegenübergestellt und später zur Schluss-Apotheose der Final-Fuge gesteigert wird.

Guandolinos Einspielung bietet noch zwei ausgedehntere Choralvorspiele Merkels über „Schmücke dich, o liebe Seele“ und „Nun sich der Tag geendet hat“: ruhig-meditative Stücke, in denen der Interpret über einem Geflecht zarter Grundstimmen die in breiten Notenwerten erklingenden Choralmelodien mit weichen Aliquotre­gis­tern klar herauszeichnet.

Gerhard Dietel