Rheinberger, Josef (1839–1901)

Organ Music

Verlag/Label: 2 CDs, Brilliant Classics 95466 (2017)
erschienen in: organ 2017/02 , Seite 57

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Als der zu seinen Lebzeiten weltberühmte britisch-amerikanische Konzertorganist Edward Power Biggs (1906–77) dreieinhalb Jahre vor seinem Tod  1973 mit dem Orchester „The Columbia Symphony“ in der New Yorker St. George’s Episcopal Church die beiden Orgelkonzerte von Josef Rheinberger auf Langspielplatte einspielte, hat sich in Europa – auch in Deutschland – noch kaum jemand für das Œuvre Rheinbergers interessiert. Insofern ist Biggs ein Vorreiter gewesen, wenngleich sein eigentlicher Schwerpunkt eher auf der vor­romantischen Epoche lag.
Und so klingt im Grunde auch Biggs’ Interpretation der beiden Rheinberger-Konzerte in F-Dur und g-Moll, die jetzt digital „remastered“ auf CD wieder  erschienen sind – eine Reise in eine längst vergangene Welt! Denn statt romantischem Schmelz in Form von fülligen, orchestralen Klängen sind hier eher neobarocke Farben zu hören, die eher zu Händel passen würden: 8’, 4’, 2’ + Mixtur – so gestaltet Biggs Rheinbergers Ecksätze, hier und dort angereichert mit Zungen, mitunter grundiert vom 32’ im Pedal. Und immer rhythmisch recht geradeaus, fast metronomisch streng! Alles in allem typisch für die Ästhetik der Zeit der Aufnahme. Allein deshalb ist die Aufnahme ein durchaus interessantes Dokument, das an den herausragenden spieltechnischen und künstlerischen Qualitäten des Interpreten keinen Zweifel aufkommen lässt.
Anders wäre Rheinberger an dem 1958 von M. P. Möller erbauten Instrument (IV+P/71) mit seiner neobarocken Disposition auch nicht überzeugend darzustellen gewesen. In den letzten acht Spielminuten der CD ergreift Biggs übrigens höchstpersönlich das Wort und spricht über Konzerte für Orgel und Orchester im Allgemeinen und Rheinberger im Besonderen.

Demgegenüber packt der italienische Organist Carlo Guandalino mehr als vierzig Jahre nach Biggs Rheinberger in seiner Einspielung ganz anders an. Auf seiner Doppel-CD widmet er sich zwar nicht den Orgelkonzerten, sondern zunächst der (massenhaft dokumentierten) 4. Orgelsonate op. 98, danach den weitaus weniger gespielten Trios op. 49 und den Zwölf Charakterstücken op. 156 – und dies auf eine Weise, mit der er seinen Hörern wirklich Lust macht auf diese Musik: Weil Guandalino ihr durch und durch romantischen Atem einhaucht, sie zum Singen bringt und ihr Frische verleiht. Da ist nichts Akademisches, spröde Buchstabiertes, ganz im Gegenteil: ein schlichtes „Adagio“ (aus den Trios) beginnt lieblich zu fließen, ein kontrapunktisch dicht gearbeitetes  „Praeludium“ (aus den Charakterstücken) versprüht Glanz und Jubel.
Stets beweist Guandalino sicheres Gespür für die richtige Dosierung seiner Agogik, aber auch für geschmackvolle, abwechslungsreiche Registrie­rungen an der Orgel, die Alessio Lucato im Jahr 2009 dort vollendet hat. Mit seinen dreißig Registern (II+P) ist das Instrument nicht übermäßig groß, aber ausgestattet mit wunderschönen, vom deutsch-romantischen Orgeltyp inspirierten Farben: mit Streichern und Flöten sowie weiten Cornett-Mischungen auf beiden Manualen, Prinzipal- und Streicherschwebung, akustischem 32’ im Pedal, knackigen Zungen und transparenten Mixturen, die nirgendwo dominieren, sondern dem Zungenplenum seine letzte Politur verleihen, so am Ende des „Trauermarschs“ aus den Charakterstücken. Diese breitgefächerte Farbpalette nutzt Guandalino treffsicher, um Rheinbergers berühmter Passacaglia in e-Moll (op. 132; 8. Orgelsonate) eine schlüssige Dramaturgie zu verleihen – 14 Minuten Musik, die keine Sekunde Langeweile bereitet. Guandalinos Rheinberger-Doppel-CD kann man sehr gut, anstatt sie „häppchenweise“ zu hören, von vorne bis hinten mit großem Gewinn genießen, ohne als Hörer dabei zu ermüden.

Christoph Schulte im Walde