Petrali, Vincenzo Antonio (1830–89)

Organ Music

Verlag/Label: Brilliant 95160 (2016)
erschienen in: organ 2016/02 , Seite 57

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Pianistisch gefärbte Salonmusik auf der Orgel, schmachtende Opern­­arien in der Kirche? Das war im unmittelbaren postrevolutionären Frankreich bis um die Mitte des 19. Jahrhunderts durchaus nichts Ungewöhnliches – man denke nur an die leicht-beschwingten Piècen dieses Genres aus der Feder Louis-James-Alfred Lefébure-Wélys, denen sowohl das heutige „klassische“ Orgelkonzert-Publikum als auch das Gros der konzertierenden Orga­nis­ten in unseren Breiten mit traditioneller Skepsis begegnen: nicht seriös genug für die Orgel!
Diese negative Haltung hat sich in jüngerer Zeit doch spürbar gewandelt. Und deshalb dürfte Marco Ruggieri jetzt auch auf ein breiteres Interesse bzw. Wohlwollen stoßen, denn der 1969 in Cremona geborene Organist und Musikwissenschaftler bricht hier engagiert eine Lanze für die Orgelmusik von Vincenzo Antonio Petrali (1830–89) – sozusagen das italienische Pendant zu Léfebure-Wély. Wie dieser schlägt auch Petrali Töne an, die den Charme, die Eleganz und auch die an Koloraturen reiche Virtuosität des Opern-Belcanto in das Reich der Orgel verpflanzen, wobei Titel wie Sonata per l’Offertorio oder Versetti per il Gloria einen geistlichen Charakter der Musik „nur“ insinuieren.
Dass Petrali zeit seines Lebens zu den populärsten Orgelvirtuosen in seinem Heimatland gehörte, ist bekannt. Mit ansteckender Vitalität „dirigiert“ der Interpret ein enormes Orgel-Instrumentarium, lässt Klarinetten und Flöten ihre ariosen Melodie-Kreise ziehen, schreitet mit einer imaginären „Banda“ durch Stra­ßen und Gassen italienischer Dörfer und Städte. „Banda“ – das sind die traditionellen Blaskapellen, ohne die keine kirchliche Prozes­sion, kein Volksfest vorstellbar ist. All dies findet sich zuhauf in Petralis mit beachtlicher kompositorischer Könnerschaft in zwei wesentlichen Schaffensphasen entstandenen Werken. Die früheren aus den 1860er Jahren sind unüberhörbar (noch) durch ihr opernhaftes Idiom geprägt, die aus den 1880er Jahren durch Rückbesinnung auf Kontrapunktik und eine wieder stärker ins Zentrum gestellte Ausarbeitung musikalischer Themen, nicht zuletzt wohl ausgelöst vom damals in Italien neu einsetzenden „Cäcilianismus“.
Zwei Instrumente hat Ruggieri für seine Einspielung ausgesucht: die Serassi-Orgel (1862) in der Chiesa Parrocchiale von Gottolengo (Provinz Brescia) und die 1877 erbaute Lingiardi-Orgel in S. Pietro al Po in Cremona – beides Volltreffer mit Blick auf Petralis Orgel-Œuvre und beide vorbildlich von der in Corte de’ Frati (Provinz Cremona) ansässigen Werkstatt Giani Casa d’Organi restauriert. Ein Vergnügen, die charaktervollen Prinzipale, Flöten und Streicher zu hören, die satten Pedal-Bässe, die sphärischen Voci umani etc. Ganz zu schweigen von den kernigen Zungenstimmen: Die machen so mancher „echten“ Banda ernsthaft Konkurrenz. Was gleichermaßen für all die „Spezial­effekte“ gilt, die gerade für italienische Orgeln der Zeit Petralis typisch sind: Glockenspiel, Tam Tam, Pauke, Be­cken, Donner … Instrumente und Interpret liefern sehr überzeugende Argumente für ein noch immer vernachlässigtes Repertoire.

Christoph Schulte im Walde