Organ Landscape Estonia / Organ Landscape Latvia / Organ Landscape Lithuania

Verlag/Label: Dabringhaus und Grimm 2007-2009, MDG 319 1431-2 / MDG 319 1503-2 / MDG 319 1559-2
erschienen in: organ 2011/04 , Seite 52

Bewertung: 4 Pfeifen

In Litauen, Lettland und Estland hat sich bezogen auf die jeweilige Größe ein reicher Bestand an historischen Instrumenten erhalten, die aus dem Zeitraum vom ausgehenden 17. bzw. beginnenden 18. bis Mitte des 20. Jahrhunderts stammen.
Auch wenn die drei Länder oft in einem Atemzug genannt werden, da sie geografisch nebeneinander liegen, müssen sie bezüglich ihrer Kultur und geschichtlichen Identität jedoch differenziert betrachtet werden. Litauen war im Mittelalter eine Großmacht, wurde jahrhundertelang in Personalunion mit Polen regiert, widersetzte sich erfolgreich dem Deutschen Orden und blieb trotz reformatorischer Ansätze katholisch. Lettland und Estland wurden von Deutschen und Dänen kolonisiert, standen jahrhundertelang unter schwedischer Herrschaft und führten die lutherische Reformation ein. Alle drei Länder gehörten nach dem Nordischen Krieg (1700-21) bzw. nach der dritten pol­nischen Teilung 1793 bis zum Ende des Ersten Weltkriegs zum russischen Zarenreich, erlebten dann eine zwanzigjährige Unabhängigkeit, wurden 1938 infolge des Ribbentrop-Molotow-Pakts der Sowjetunion einverleibt, erlangten erst nach dem Fall des „Eisernen Vorhangs“ 1989 ihre erneute Unabhängigkeit und sind nunmehr Mitglieder der Europäischen Gemeinschaft.
Für Orgelbau und Orgelmusik waren die damit jeweils gegebenen politischen und wirtschaftlichen Faktoren von großer Bedeutung: Im katholischen Litauen wirkten zu­nächst vor allem Orgelbauer aus Polen und erst nach dem Nordischen Krieg auch deutsche Lutheraner; das Memelland war als nördlichster Teil des ehemaligen Ostpreußens evangelisch und stand in Königsberger Orgeltradition. In den von einer protestantischen deutschen Oberschicht jahrhundertelang kulturell dominierten und bis zu deren „Aussiedlung“ 1938/39 mitgeprägten Ländern Lettland und Estland wurden die Instrumente vornehmlich von aus dem Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation oder Preußen eingewanderten Orgelbauern und deren Schülern errichtet. Erst im 19. und 20. Jahrhundert traten vermehrt einheimische Orgelbauer nichtdeutscher Nationalität hervor, wobei die Prestigeobjekte in den Kirchen wichtiger Städte weiterhin bis auf Ausnahmen aus dem Deutschen Reich importiert wurden.
Martin Rost ist es nun gelungen, die zwischen ca. 1680 und 1940 gewachsene Orgelkultur der drei Länder mit einer Auswahl bedeutender Orgeln zu porträtieren. Neben Instrumenten von Erbauern mit Weltruhm (Litauen: Casparini-Orgel in Wilna; Lettland: Grüneberg-Orgel in Libau, Ladegast-Orgel in Wolmar, Walcker-Orgel in Riga; Estland: Walcker- und Sauer-Orgeln in Reval) stehen solche, deren Schöpfer dem Vergessen mehr oder weniger anheimgefallen bzw. nur von regionaler Bedeutung sind (Litauen: Preuß-Orgel in Kretingen, Goebel-Orgel in Šve?kšna, Radavicius-Orgel in Wobolnicken; Lettland: Rhaneus-Orgel in Ugahlen; Estland: Stein-Orgel in Kielkond, Normann-Orgel in Simonis, Kriisa-Orgel in Rappel; u. a.). Die Auswahl der Musik ist ebenso auf die Region bezogen, indem Kompositionen von Meis­tern gespielt werden, die in engem Bezug zur Geschichte des jeweiligen Landes stehen (Litauen: Jan Podbielski, Mikalojus Konstantinas C?iurlionis; Lettland: Valentin Meder, Johann Gottfried Müthel, Georg Michael Telemann, Peeter Laja; Estland: Johann Friedrich de la Trobe, Rudolf Tobias, Peeter Süda, Edgar Arro, u. a.). Sowohl unter den Instrumenten als auch den Kompositionen finden sich viele unerhörte Klänge, wenngleich bei beiden nicht alles zum Großen der Welt gehört, doch macht gerade das auch den Reiz aus. Die künstlerischen Interpretationen von Instrumenten und Kompositionen sind auf allen drei Tonträgern stets überzeugend, das Spiel lebendig und auf die Eigenheiten bzw. den nicht immer sonderlich guten Zustand der Orgeln Rücksicht nehmend.
Die zweisprachigen Beihefte (englisch/deutsch) sind äußerst informativ (allerdings wurde aufgrund der Textfülle ein niedriger Schriftgrad gewählt, der alles andere als leserfreundlich ist): Texte zur Orgelgeschichte sowie zu den Komponisten und ihren Werken, in denen auch die deutschen Namen der Orte – wenngleich nicht systematisch durchgehalten – genannt sind, Einzeldarstellungen der zu hörenden Instrumente mit sehr guten Ab­bildungen, Dispositionen und den gewählten Registrierungen. Eine solche musikalische Orgelreise ins Baltikum bildet nicht nur, sondern macht neugierig aufs Original …
Michael Gerhard Kaufmann