Händel, Georg Friedrich

Organ Concertos op. 4

für Orgel solo bearbeitet von Samuel de Lange (1871)

Verlag/Label: 2 CDs, Dabringhaus und Grimm, MDG 317 1929-2 (2016)
erschienen in: organ 2016/01 , Seite 54

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Die sechs weithin bekannten Orgelkonzerte Händels (Opus 4) einmal auf eine andere und ungewohnte Art hören und erleben? Dies bietet die vorliegende Aufnahme uneingeschränkt in eindrucksvoller Weise. Die Concerti Händels werden hier nicht in ihrer Originalfassung dargeboten, sondern in einer hochromantischen Version für Orgel solo des Pianis­ten, Organisten und Komponisten Samuel de Lange (1840–
1911) aus dem Jahre 1871.
De Lange ist heute als Komponist allerdings fast gänzlich in Vergessenheit geraten – und dies obgleich seine Kompositionen durchaus neben denen Rheinbergers oder Guilmants bestehen können. Die CD verfügt also auch musikhistorisch über einen hohen Repertoirewert als eine instruktive Bereicherung der Orgelszene.
Samuel de Lange wirkte zunächst als Organist in seiner Heimatstadt Rotterdam, danach in Basel, Paris, Köln und Den Haag. Ab 1893 war er Orgeldozent am Konservatorium in Stuttgart, dessen Direktor er von 1900 bis 1908 war. Er konzertierte besonders in Osteuropa, aber natürlich auch in England, Frankreich und Deutschland und hinterließ ein sehr umfangreiches kompositorisches Werk von über 800 Werk­titeln in fast allen Sparten und Besetzungen. All dies und vieles mehr
– etwa Interessantes über die Entstehungsgeschichte der Orgelkonzerte und über die Ästhetik der Bearbeitungen – erfährt man im ausführlichen und fundiert recherchierten Begleittext auf D/E/F.
 Nach über dreißig Jahren „Dogmatismus“ der historischen Aufführungspraxis und dem „ordentlichen Fortgehen“ respektive dem „obligatorischen“ Non legato-Spiel auf der Orgel bei Musik aus der Barockzeit hört man in jüngerer Zeit vermehrt Aufnahmen und Konzertdarbietungen, bei denen etwa Händel so interpretiert wird, als hätten ihn Brahms oder Reger gespielt; oder nach den Straube-Ausgaben eingerichtete Orgelwerke Bachs bzw. dessen Orchestersuiten in Stil und Besetzung, wie sie Richard Strauss vielleicht aufgeführt hätte. Und man wird einräumen müssen, dass sich vieles in der Barockmusik dem heutigen Durchschnittshörer in eben dieser romantisierten Stilistik unmittelbarer erschließt als eine vielleicht für die Fachwelt vermeintlich perfekte „historische“ Interpretation, die aber emotional unterkühlt wirkt.
Die vorliegende Händel-Interpretation bildet in diesem Sinne eine wohltuende Alternative gegenüber der heute allzu beliebten „barocken“ Schreibmaschinen-Artikulation. Es bleibt ohnehin zweifelhaft, ob und inwieweit im 18. Jahrhundert auf der Orgel vornehmlich non legato artikuliert wurde, da die meisten diesbezüglichen Quellen das Cembalo oder später das Hammerklavier betreffen. Studiert man etwa Phrasierungen in handschriftlichen Einzelstimmen aus dem 18. Jahrhundert in Werken Bachs, so fällt auf, dass gleiche Motive in Bläserstimmen oft mit längeren Legatobögen belegt werden, während die Streicherstimmen keine oder kürzere Bögen aufweisen – was im Übrigen zum Teil noch der Orchesterpraxis im 19. Jahrhundert entsprach, wollte der Komponist die Bläser nicht explizit abgesetzt oder staccato spielen lassen. Cembalo und Klavier kämen als Saiteninstrumente also näher an die Artikulation von Streichinstrumenten heran, während die Orgel ihrer Natur nach den Blasinstrumenten verwandter ist, die im Normalfall ein gebundenes Spiel bevorzugen.
Rudolf Innig gelingt ein viel­gestaltiges, atmendes Legatospiel, wobei er hierbei die komplette Palette an Möglichkeiten ausschöpft. Hin und wieder integriert er bewusst das non legato, so dass sein Vortrag nie ermüdend wirkt, sondern stest musikalisch durchdacht, deklamatorisch und kommunikativ erscheint. Verstärkt wird dieser Eindruck durch die warmen, ineinanderfließenden und selbst bei den Zungen nie aggressiven jugendstiligen Färbungen der dreimanualigen Orgel von Furtwängler & Hammer (1899), deren romantisch-mondänes Klangbild zu der offenherzig-klaren Melodik und Periodik der Händel’schen Musik einen reizvollen Kontrast bildet. In dieser interessanten Spannung stehen auch die Bearbeitungen de Langes: Sie tauchen Händels Musik – ähnlich wie es etwa Brahms in seinen Händel-Variationen (Opus 24) tut – in ein romantisch-verklärendes Licht und lassen sie zuweilen wie einen melancholischen Traum aus fernen, vergangenen Zeiten erscheinen.
De Lange füllt die Concerti dabei durch zusätzliche Stimmen auf und schafft so eine größere, zuweilen fast symphonische Klangfülle durch vollgriffige Harmonien. Zudem fügt er, etwa in den Konzerten 1, 2 und 4, ausgedehnte Kadenzen im Stil des 19. Jahrhunderts ein, so dass man hier den Eindruck gewinnt, Brahms, Rheinberger oder Gigout – wenn nicht gar Reger – hätten Händel kurzerhand von der Orgelbank geschoben, um eine eigene Kadenz zu improvisieren. Diese Momente werden vom Interpreten durch eine sensible, romantisierende Agogik unterstützt, so dass im Zusammenspiel von Bearbeitung, Orgel und Interpretation ein „Gesamtkunstwerk“ von Format entsteht.Um auf die 23 Einzelsätze der sechs Concerti hier en detail einzugehen, fehlt der Raum. Zusammenfassend sei jedoch gesagt, dass die schnellen Sätze im Allgemeinen der mehr breiten Satzstruktur der Bearbeitungen und dem Raum entsprechend in einem eher gehaltenen Tempo vorgetragen werden, wobei oft durch den Wechsel der Manuale dynamische Abstufungen und Echoeffekte entstehen. Vielleicht hätte man sich hier sogar die Freiheit nehmen können, hin und wieder noch mehr einen dynamisch feststehenden Abschnitt durch zusätzliches Registrieren in sich zu modifizieren oder abzustufen, um ein noch spätromantischeres, zerfließendes Klangbild zu erzeugen und die letztendlich noch barocke Stufendynamik – die de Lange zumeist selbst vorschreibt – vollständig zu verlassen.
Die langsamen Sätze vermitteln hingegen manchmal den Eindruck eines Orgelsonatensatzes à la Mendelssohn – wie der Beginn des schönen „Andante“ im vierten oder im „Larghetto“ des fünften Konzerts; oder man wähnt sich in einem Orgelstück von Brahms („Larghetto“ des sechsten Konzerts), bevor man durch eine allzu klare barocke Sequenz oder eine typisch barocke Kadenzwendung unversehens wieder ins 18. Jahrhundert zurückgeholt wird. Die Schlüsse mancher langsamer Sätze entschweben bisweilen in mystische Fernen. Die von der italienischen Oper beeinflussten neapolitanischen Wendungen („Adagio“ des 3. Konzerts) oder die ausdrucksvollen Dissonanzen bzw. „falschen“ Töne (Kopfsatz des ersten sowie „Adagio“ des zweiten Konzerts) kultivieren zuweilen den leidend-pathetischen Unterton einer verfeinerten Zivilisation im Fin de Siècle. In den bewegten Ecksätzen überwiegt eine festliche, manchmal fast symphonische Stimmung, etwa in der Art einer Introduction à la Gigout: spannend, was man mit Händels Musik alles machen kann …
Zusammenfassend: ein schönes, gewagt-unkonventionelles Projekt, das sowohl dem Bearbeiter als auch dem Bearbeitungsgegenstand wie dem Interpreten alle Ehre macht.

Eberhard Klotz