Orchestral Transitions

Swedish Symphonic Music for the Organ. Jonas Lundblad an der Orgel der Västerås Kathedrale, Schweden

Verlag/Label: Caprice CAP 21942 (2023)
erschienen in: organ - Journal für die Orgel 2024/01 , Seite 63

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Wer – ein Häuflein eigeweihter Kenner, Könner und Liebhaber ausgenommen – hätte gedacht oder geglaubt, dass der Orgelbau schon vor rund 130 Jahren so weit fortgeschritten war, dass die „Königin der Instrumente“ die Stimmen eines ausgewachsenen Sinfonieorchesters täuschend ähnlich hervorzubringen vermochte?
Nicht eine Konzerthalle von Weltrang, nein, die gotische Domkirche zu Västerås am Ufer des Mälarsees nordwestlich von Stockholm beherbergt eine der kostbarsten Zeuginnen moderner Orgelbaukunst. Die Firma Åkerman & Lund schuf sie in den 1890er Jahren als erstes großes Instrument mit drei Manualen und vierzig Registern, rohrpneumatischer Traktur und Registratur samt fünf „Hochdruckstimmen“. Im 20. Jahrhundert erfuhr sie eine Reihe technischer und ästhetische Veränderungen. Zu ihrem hundertjährigen Jubiläum erhielt sie einen digitalen Spieltisch und ein größeres Schwellwerk. 2009 erfuhr sie durch dieselbe Firma eine klangliche Restaurierung, deren Ziel es war, den Klangcharakter von 1898 zurückzugewinnen.
Die ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts gelten als Blütezeit sinfonischer Musik. Berühmtheiten der schwedischen Nationalromantik wie Hugo Alfvén oder Wilhelm Stenhammar erweiterten das sinfonische Repertoire. Neue Institutionen und Konzertsäle entfremdeten die Orchestermusik der Kirche, wo­mit sich die Orgel aus der Besetzungsliste des modernen Standardorchesters zurückzog. Was etliche Komponisten nicht hinderte, sich ihr als Soloinstrument mit sinfonischen Ambitionen zu widmen. In Schweden entwickelte die Organis­tin Elfrieda Andrée, u. a. beeinflusst von Charles-Marie Widor, schon Ende des 19. Jahrhunderts eine sinfonische Schreibweise.
Das vorliegende Album veranschaulicht mehrere Übergangsstadien zwischen Orgelstück und Orgelmusik sinfonischen Charakters während der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts: Beispiele der eher wenigen von vornherein für die Orgel geschriebenen Stücke, stehen Transkriptionen beliebter Orchesterwerke spannungsvoll gegenüber. Der einflussreiche Organist Otto Olsson (1879–1964) ist mit Auszügen seiner ersten Orgelsymphonie op. 15 vertreten. Ihnen stehen Arrangements von Organist:­innen wie Sara Wennerberg-Reuter (1875–1959) und Gösta Lundborg (1903–66) gegenüber.
Die Interpretationskunst des Orgelvirtuosen und Musikologen Jonas Lundblad ist schier überwäl­tigend. Allein die Art, wie er den 3. und 4. Satz der Es-Dur-Sinfonie von Otto Olsen inszeniert, instrumentiert, dramatisiert und phrasiert, ist so hinreißend, dass man gut und gern auf eine orchestrale Darbietung verzichtet.
In Malmö, Lübeck und Piteå ausgebildet, konzertiert Lundblad freiberuflich europaweit. Seit wenigen Monaten wirkt er hauptamtlich als Organist der Domkirche zu Västerås. Sein Repertoire reicht von der Romantik bis in die Gegenwart. Neben dem Orgelschaffen Max Regers und Olivier Messiaens liegt ihm die Tonkunst Schwedens besonders am Herzen.

Lutz Lesle