Werke von Bernd Richard Deutsch, Maurice Ravel, Jean Sibelius und Ēriks Ešenvalds

Oceanic

Iveta Apkalna an der Orgel der Concert Hall in Stavanger (Norwegen), Stavanger Symphony Orchestra, Andris Poga

Verlag/Label: Berlin Classics 0302813BC (2023)
erschienen in: organ - Journal für die Orgel 2023/03 , Seite 63

Bewertung: 4 von 5 Pfeifen

Das Meer ist Thema dieses Albums, das Iveta Apkalna, das Sinfonieorchester Stavanger und Dirigent Andris Poga im norwegischen Stavanger eingespielt haben. Neben zwei bekannten orchestralen Seestücken, Ravels Une barque sur l’océan und Sibelius’ Okeaniden op. 73, erklingen auf dem Album zwei zeitgenössische Konzerte für Orgel und Orchester: Okeanos von Bernd Richard Deutsch (geb. 1977) und Okeana Balss (Stimme des Meeres) von Ēriks Ešenvalds (geb. 1977).
Ešenvalds, lettischer Landsmann von Dirigent Poga und Solistin Apkalna, wuchs in der Chortradition seiner Heimat auf, und das merkt man seinem Konzert für Orgel, Flöte, Schlagzeug und Streicher an. 2014 mit Apkalna als Solistin im Rigaer Dom uraufgeführt, schwelgt es in Massenklängen der Streicher, in Orgelpunktstrecken und Aufwallungen, von denen manche sich in einem Beckencrescendo brechen. Das mag auf maritime Klischees hindeuten, doch das Stück hat Interessantes, Individuelles zu bieten: schwebende Klanglichkeit, abwechslungsreiche Streichertexturen, Melodieschwünge, die der Musik Form und Rhetorik geben. Ausgangspunkt ist der Mordent A-G-A der Toccata BWV 565, der sogleich zur Welle gedeutet wird. Der Mittelsatz fesselt durch ein Flötensolo, vom Vibraphon akzentuiert und von bebenden Streicherimpulsen begleitet. Originell ist der Einsatz des Soloinstruments Orgel. Ešenvalds entwickelt es gerne aus der Mittellage heraus, es durchwebt den Streicher­satz, seine Statik bietet sanften Kontrast zum weich-dynamischen Orchestergeschehen.
Deutlich mehr gefordert sind Orchester, Solistin und Publikum in Bernd Richard Deutschs viersätzigem Orgelkonzert Okeanos von 2015. Das großbesetzte Orchester bindet die Orgel in ihrer gesamten Klangmasse und dem vollen Ambitus ein. Der Titel verweist auf das antike Konzept des Ur-Ozeans; die vier Sätze ordnet der Komponist den Elementen Wasser, Luft, Erde und Feuer zu. Die Orgel kommt als farbiger Dialogpartner zum Einsatz, aber auch als schwere Klangmasse, furios ausbrechende Solistin, Antreiberin des Tutti. Der Kopfsatz entwickelt sich in Wellen; ein Scherzo stellt die Luft dar und konfrontiert höchste Orgel-, Schlagzeug- und Streicherfarben. Auf der Erde tummelt sich Weidevieh samt Hirten, allerdings eher melancholisch als bukolisch. Und auch Debussy wird zitiert – allerdings mit L’Après-midi d’un faune. Im heftig tänzerischen Feuer-Finale, das auch nachdenk­lichen Orgelsoli Raum bietet, haut Hephaistos fröhlich auf den Amboss; ein bacchantischer, durchaus gewalttätiger Gestus obsiegt.
Das Musizieren von Solistin und Orchester vermittelt Impulsivität und intensive Farbigkeit, Apkalna ist virtuos bei der Sache, und der Aufnahme (Jens Schünemann) ent­geht kein Detail. Die recht klas­sisch angelegte Orgel scheint manchmal an ihre Grenzen zu kommen, man kann sich noch etwas mehr Wucht vorstellen. Doch spielen Solistin und Orchester so traumwandlerisch perfekt koordiniert, dass beide Konzerte in ihrer ganzen Charakteristik wirken.

Friedrich Sprondel