Küster, Konrad

Musik im Namen Luthers

Kulturtraditionen seit der Reformation

Verlag/Label: Bärenreiter, Kassel 2016, 319 Seiten, 34,95 Euro
erschienen in: organ 2017/02 , Seite 60

Der 1959 geborene und in Freiburg im Breisgau lehrende Musikhistoriker Konrad Küster ist der Orgelwelt hierzulande kein Unbekannter. Sein Forschungsspektrum erstreckt sich von der Musik des Mittelalters über die protestantische Musikkultur des 16. bis 19. Jahrhunderts bis zu Mozart. Einem breiteren Publikum wurde er bekannt als Herausgeber des Bach-Handbuchs (Bärenreiter, Kassel 2000). Ein weiterer von Küsters Arbeitsschwerpunkten ist die Musik im nördlichen Mitteleuropa, darunter besonders die Orgelkultur in den Marschlandschaften an der Nordsee. Seit 2012 widmet er sich zudem Forschungen im Rahmen der kulturgeschichtlichen Pro­jekt­linie „Luthers Norden“ und konzipierte etwa 2013 in Verbindung mit der Evangelisch-Lutherischen Nordkirche die Wanderausstellung „Orgeln an der Nordsee – Kultur der Marschen“, seit 2013 gibt er die Notenreihe Mu­sik zwischen Nord- und Ostsee  heraus. Pünktlich zum 500. Reformationsjubiläum legte Küster nun seine Monografie Musik im Namen Luthers vor.
Lutherisch (aus-)geprägte Kirchenmusik stellt seit der Renaissance ein Kernmoment unserer heutigen westlichen Kulturidentität dar. Küs­ter eröffnet sozusagen von außen he­­rangehend einen primär kulturgeschichtlich motivierten und „neutralen“ Zugang zur Musiksoziologie und musikalischen Traditionsbildung der lutherischen Reformation in un­seren Breiten und richtet sich dabei insgesamt an eine allgemeine, nicht zwangsläufig kirchlich sozialisierte (musik-)interessierte Leser­schaft. Das Buch ist in zehn Kapitel unterteilt: Neun der Kapitel behandeln die Zeit von 1500 bis 1750, das anschließende Vierteljahrtausend von der Aufklärung bis zur Gegenwart wird allerdings unver­ständ­licherweise in nur einem einzigen Kapitel allzu holzschnittartig verhandelt. Der Autor skizziert die Bedeutung der (Kirchen-)Musik in der Liturgie der Lutherzeit und fokussiert Fortführungsmodelle reformatorischer Ideen durch Kantoren, Organisten und Amateure. Besonders von ihm in den Blick genommen werden Heinrich Schütz und J. S. Bach, aber auch Musik aus der Zeit zwischen diesen beiden. Was in dieser Publikation schmerzlich fehlt, ist eine fundierte Auseinandersetzung des Autors mit den eigenen (profilierten) musiktheologischen, ästhetischen sowie musikpädagogischen und musikpsychologischen Positionen des Reformators selbst; haben wir es bei Luther fraglos mit dem bedeutends­ten christlichen Musiktheologen seit Augustinus zu tun! Allein aus hermeneutischem Inte­resse heraus wäre insoweit die bei Küster gänzlich unterbleibende Darstellung der wichtigs­ten theologischen „Essentials“ seiner reformatorischen Musikidee, die sich von der tradierten spätmittelalterlichen Musikphilosophie in vielen dezidiert neuzeitlichen Umformungen und Akzentuierungen abhebt, methodologisch geboten und inhaltlich wegweisend gewesen.
Die insofern allzu unbefangen „neutral“ verbleibende Haltung des Autors gegenüber Luther und seinem originären Musikdenken bestätigt u. a. auch das Kapitel (IV.) über die Orgel „,Lobet den Herren mit Saiten und Orgeln‘ – Das Luthertum und die Orgelkunst im nördlichen Mitteleuropa“ (in Mittel- und Süddeutschland, gab es natürlich auch ‚lutherische Orgeltradition(en) ‘…). Nach den initialen Ausführungen zur Technik und Soziologie der spät- und hochmittelalterlichen Orgel im Kontext des Sakralen springt Küster zur (norddeutschen) Orgel des Früh- und Hochbarock. Dass sich Luther selbst zum Teil überaus skeptisch und dis­tant zur Orgel geäußert hat und das grundsätzliche Problem der Zulässigkeit freier Orgelmusik im lutherischen Gottesdienst sogar die Wittenberger Theologische Fakultät beschäftige, erfahren wir vom Autor z. B. nicht. Allerdings hält der Band inhaltlich insofern, was er auch zunächst verspricht, wenn im Untertitel von den „Kulturtraditionen seit der Reformation“ die Rede ist, mithin von den Entwicklungen seit und nach Luther. Was Küster prioritär interessiert, ist das nicht unergiebige Thema „Luther und die Folgen“. Ein Verdienst seiner Untersuchung liegt sicher darin, dass er nachvollziehbar aufzeigt, wie der Reformator für Entwicklungen der Musik in Dienst genommen wurde, die er selbst weder intendiert noch befördert hat. Interessant ist in diesem Kontext die – von Küster nicht be­namte – Tatsache, dass Luther selbst kein einziges Mal den Terminus „Kirchenmusik“ oder „musica sacra“ verwendete. Er redete stets allgemein und universell von der „Musica“ als solcher. Küster legt das Augenmerk auch auf bedenkliche Entwicklungen sekundärer (postu­mer) Heroisierung, welche den Blick auf Luthers originäre Gedanken zur Musik verstellen.
Das 19. Jahrhundert wird dagegen, wie gesagt, recht oberflächlich behandelt, Mendelssohn gerade mal gestreift; wichtige Protagonis­ten der (lutherischen) Kirchenmusikpflege im Kontext des protestantischen Preußens nicht einmal namentlich benannt. Auch die vom Luthertum ausgehenden naheliegenden Verbindungslinien etwa zu Reger oder Sigfried Karg-Elert (Reger wird gerade einmal namentlich erwähnt!), insbesondere im Kontext der (protestantischen) „Leipziger Schule“ um Straube, Ramin etc., werden von Küster nicht ausgezogen. Dass der dem hanseatisch-hamburgischen Luthertum entstammende Johannes Brahms sozusagen aus purer Verlegenheit nur „ausnahmsweise auch ein sakrales Werk“ (wie steht es mit den großartigen Brahms-Motetten oder den wunderbar-tiefgründigen späten Choralvorspielen für die Orgel op. 122?) schrieb, ist schlechterdings unhaltbar. Küster verkennt hiermit offenbar Wert und Bedeutung der Brahms’schen geistlichen Vokalmusik (dezidiert lutherischer Provenienz und Prägung!) und die Tatsache, dass die Bibel für Brahms zeitlebens ein veritables Glaubens- und Weisheitsbuch war, an dem er sich als Komponist und Mensch immer wieder abarbeitete.
Ganz persönlich fehlt mir überdies die geografische Weitung der Autorenperspektive über die engeren mitteleuropäischen Grenzen hinaus. Dem Autor scheint es offenbar entgangen oder nicht wichtig genug gewesen zu sein, dass das heute weltweit präsente Luthertum auch in anderen Kontinenten und Sprachräumen exis­tiert und seinerseits eine vitale Fülle nationaler kirchenmusikalischer sowie liturgischer Traditionen ausgeprägt hat. Gleichwohl möchte ich aus gegebenem Jubiläumsanlass den Band allen an evangelischer Kirchenmusik ernsthaft Interessierten im Lutherjahr 2017 guten Gewissens zur Lektüre empfehlen.

Wolfram Adolph