Torp, Martin

Morgenglanz der Ewigkeit

Choralfantasie und -fuge für Orgel solo (2013)

Verlag/Label: primTON, pT-N-008
erschienen in: organ 2015/04 , Seite 61

Als das dreitönige Geläut der Augsburger St.-Anna-Kirche 2011 um eine vierte Glocke erweitert wurde, erklang im Festkonzert Martin Torps Auftragskomposition Toccata, Adagio und Fuge. Die Toccata ist als Carillon konzipiert: Im Bass ertönt eingangs das (Glocken-)Motiv E– G–A–c° in Doppelganzen, da­rüber gestalten Tenor und Alt einen konsequenten Ascensus von Sexten in Halbe-Bewegung, und die Klangkrone bildet der Diskant aus glitzernden Achteltriolen. Bei diesen Triolen werden bevorzugt Quart- und Quintintervalle mannigfach kombiniert (z. B. 8–5–1, 4–8–5, 1–4–8, 5–1–4), so dass ein rotierendes Klangband entsteht, das wiederum zusammen mit Mittelstimmen und Bass einen farbenreichen Klangteppich bildet.
Die Satzschichtung des Anfangs wechselt bald in einen vierstimmigen oszillierenden Manualsatz, unterhalb dessen der meist in Vierteln voranstürmende Pedalbass das Geschehen bestimmt. In Takt 65 erscheint das modifizierte Glockenmotiv, nunmehr E–A–G–c°, das den Kopf des Fugenthemas im III. Satz bildet. Dreiklang und Durmolltonalität werden weitgehend gemieden, zu den zartbitter-herben Quart-Quint-Führungen des Diskants passt eh eine Harmonik, die in Hindemiths Klangtechnik wurzelt, viel besser. Als Forte-Regis­trierung werden Prinzipale und Mixtur, dazu unterstützend Gedackte und Flöten vorgeschlagen, „Zungenstimmen sollten […] – wenn überhaupt – nur sehr sparsam zum Einsatz kommen“ – intendiert ist mithin der brillante Charme ungetrübter Personanzen. Insgesamt vollzieht sich eine Steigerung der Bewegung pro Viertel von der Achteltriole über vier Sechzehntel bis hin zur Sextole, so dass sich hier binnen vier Minuten „großes Kino“ ereignet – ein ex­zellentes deutsches Carillon.
Ein akkumulierender elftöniger Cluster eröffnet die Morgenglanz-Fantasie, löst sich bald aber in oszillierende Sextolen auf, was an impressionistische Klangtechnik erinnert. Im Doppelpedal ertönt die Kopfzeile des Cantus zunächst auf C basiert, unmittelbar darauf die zweite Zeile in H, problemlos vermittelt durch die freitonale Harmonik. Melodiesegmente, meist Zeilen, wandern durch den gesamten Klangkosmos, verteilt auf verschiedene Stimmen und harmonische Ebenen, bis am Ende D-Dur als tonales Zentrum erreicht ist.
Dieser souverän disponierende Umgang mit Melodie, harmonischen Entwicklungen und stationär rotierenden Klangpatterns macht den Inhalt des Werk(unter)titels Choralfantasie aus und ermöglicht dabei durchaus Distanz zu historischen Vorbildern, während es bei der Fuge – trotz erkennbaren Bemühens – kein Entrinnen gibt: die Nähe zu Altbekanntem ist durch Themastruktur (klassischer Kadenztriller, Superjectiones), Beantwortung, Komplementärrhythmik, Aug­mentatio etc. unverkennbar.

Klaus Beckmann