Mit Wind gemalt …

Ein Portrait der Walcker-Orgel (1903) der Christus­kirche Heidelberg

Verlag/Label: Christopherus Records CHR 77372 (2012)
erschienen in: organ 2013/01 , Seite 57

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Künstlerische Intentionen erscheinen zuweilen mehr konstruiert als ambitioniert, und wenn der viel
beschworene „rote Faden“ bei der Vielfalt der Farben am Ende überhaupt schwerlich auszumachen ist, dann wird das kunterbunte Einerlei kurzerhand zur Programmatik erklärt. So mag etwa die motivische Verwandtschaft der Themen von Humperdincks Vorspiel zu Hänsel und Gretel mit Regers Choralfantasie Wachet auf auf den ersten Blick so etwas wie eine lose verbindende Klammer sein, aber über die auf einem Quintsextakkord basierende Thematik hinaus – auch in unzähligen Geläuten als Salve Regina-Motiv verwendet – haben beide Werke nichts wirklich gemein. Also muss die „Kontrast-Ästhetik“ herhalten: hier die Bearbeitung, dort das Original – wie originell! Was fügte sich besser zum teutonischen Wilhelminismus (Reger) als der französische Impressionist par excellence (Debussy). Und welche inhaltliche bzw. sti­listische Legitimation kommt dann der Musik Gershwins und des Wiener Zwölftöners Schönberg in diesem Reigen zu? Aber über den vordergründigen Aspekt, dass „coole“ Organisten heute auch mal gerne „in Jazz machen“, gibt es noch einen gewichtigeren Grund: in den 1930er Jahren haben Schönberg und Gersh­win in Los Angeles gemeinsam Tennis gespielt …
Kommen wir zum Instrument: Wo liegt der „sittliche Nährwert“ des Orgelbauhandwerks, im Jahr 2012 eine komplette Spieltisch­pneu­matik detailgetreu zu rekonstruieren, gleichzeitig aber als Tribut an die Anforderungen einer universellen Konzertnutzung eine elektronische Setzeranlage einzubauen …? Klingt Reger auf einer Oskar-Walcker-Orgel (nach 1900!) wirklich „authentisch“, wenn das Instrument aufgrund der pneumatischen Traktur die Behäbigkeit einer in die Jahre gekommenen alten Dame nur noch schwerlich zu leugnen vermag? Hätte hier ein progressiver Umgang mit der überkommenen „Restsubstanz“ der alten Walckerin nicht mehr gebracht? Stattdessen hört man immer wieder die typischen Unarten der Kegellade: Windstößigkeit in vollgriffigen Tutti-Passagen, aggressives Anspracheverhalten im Diskantbereich, vor allem bei kräftiger Registrierung.
Eine gute Interpretation, ein überzeugendes Musizieren mag vom jeweiligen Instrument durchaus inspiriert und von der räumlichen Umgebung motiviert sein. Das sine qua non eines künstlerisch ambitionierten Musizierens aber bleibt der Interpret, der mit eigenem gestalterischen Profil die Partitur reflektiert und die jeweiligen Kompositionen eigenkreativ nachzuschöpfen versteht. Diese erschließen sich dem Hörer – gegebenenfalls auch unabhängig von der äußeren Farbgebung – inhaltlich, vermögen ihn mitzureißen. Über dieses Potenzial verfügt Gerhard Luchterhandt als versierter Organist zweifelsohne. Ein Werk wie Schönbergs Variations on a Recitative (1941) erfordert einen intellektuell überlegenen Interpreten, der wie Luchterhandt der stets zur Brüchigkeit tendierenden Textfaktur mit stringentem, strukturiertem Spiel meisterhaft begegnet. Die Wiedergabe von Regers Wachet auf-Fantasie basiert auf einer tiefen inneren Ruhe, weitgespannten, atmenden Bögen. Vordergründige Effekthascherei ist dem Interpreten ebenso fremd wie hohle, virtuose Zurschaustellung seiner fraglos vorhandenen technischen Fertigkeiten. Dass er mit den Klangressourcen der Heidelberger Walcker-Orgel umzugehen weiß, versteht sich fast von selbst.

Wolfgang Valerius