Mendelssohn

Mendelssohn and the Organ Sonata

Six Organ Sonatas Op. 65 / Nine pieces without opus numbers

Verlag/Label: LAWO LWC1108 (2016)
erschienen in: organ 2017/01 , Seite 55

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Wenn man auf die Tracklisten dieser beiden verschiedenen Neuaufnahmen von Orgelwerken Felix Mendelssohn Bartholdys blickt, ergeben sich, bis auf eine einzige Ausnahme, kaum nennenswerte Unterschiede bezüglich der Spiellängen. Die Instrumente weisen Bezüge zur Orgelästhetik der Mendelssohn-Zeit auf, doch fallen beim genaueren Studieren der beiden Booklets die ersten gravierenden Unterschiede ins Auge: Während Anders Eidsten Dahls Texte (norwegisch/englisch) sich intensiv sowohl mit der wahrhaft interessanten Entstehungsgeschichte der Mendelssohn’schen Orgelwerke auseinandersetzen als auch ausreichende Informationen über das Instrument bieten, badet der Text von Righetti (in frz., dt. und engl.) in redundanten Selbstreflexionen über die Problematik einer Orgelaufnahme an sich, wogegen die konkret in Rede stehende Musik schlicht unerwähnt bleibt, und über das Instrument wird kaum mehr verraten als die nackte Disposition. Dagegen ist die optische Präsentation der CD-Publikation bei Benjamin Righetti in grafischer und vor allem fotografischer Hinsicht ambitionierter.
Die große (nicht neue) Frage, wie man Mendelssohn auf der Orgel vorteilhaft und zugleich authentisch darstellen könnte, fängt bei der Wahl des Instruments an. Hier haben wir auf der einen Seite eine interessante historische Orgel von Aloys Mooser aus dem Jahr 1834 (also aus Mendelssohns Lebenszeit) in der Kathedrale St. Nikolaus im schweizerischen Fribourg und auf der anderen Seite einen von Friedrich Ladegast „inspirierten“ Neubau von Eule (Bautzen) in der Sofienberg-Kirche zu Oslo (Norwegen).
Mendelssohns Orgelwerke sind ja in England, angeregt durch englische Organisten und Verleger, zuerst herausgegeben worden und kurioserweise wohl zu dieser Zeit an den wenigsten englischen Orgeln, u. a. wegen des vielfach noch fehlenden Pedals, darstellbar gewesen. Ausnahmen sind hier die auch von Mendelssohn selbst gespielten frühen in­novativen Town-Hall-Orgeln wie in Birmingham (William Hill). Eine Mendelssohn-Einspielung auf einer englischen Orgel dieser Zeit oder eines Schulze-Instruments, wie sie die englische Orgellandschaft der Mitte des 19. Jahrhunderts raumgreifend und nachhaltig inspiriert haben, wäre da si­cher eine naheliegende Idee. So steht der Interpret sowohl bei der Auswahl seiner Ideal­orgel für eine Aufnahme immer vor dem Prob­lem, ob er diese Musik eher aus der Vergangenheit her betrachtet, also auch eher spätbarock artikuliert und phrasiert, oder die (früh-)romantische Botschaft der Werke, die in die Zukunft weist, auslotet. Das betrifft das Instrument genauso wie die musikalische Gestaltung.
Hier geht Benjamin Righetti ganz konträre Wege: Sein Instrument weist in Klangaufbau und Stimmung (die im b-Bereich, besonders in f-Moll und As-Dur, an die Grenzen der Erträglichkeit geht) deutlich in die barocke Konvention. Die Disposition weist stilis­tisch französische und süddeutsche Einflüsse auf. Righettis Art zu registrieren ist jedoch „unkonventionell“. So passen die Zungen und Terzmischungen Moosers oft nicht zum Plenum, das Righetti auswählt. Teilweise sorgt eine Aufregistrierung für Dramatik, andererseits werden auch längere Sätze, wie die Fuge aus der 2. Sonate, komplett im mezzoforte durchgespielt und die Schlusssteigerung dadurch gewissermaßen verschenkt.
Auch Righettis Artikulation ist wenig innovativ im non legato beheimatet und wirkt teilweise zerrissen und ohne Ziel; Phrasen bilden sich einzig in der überzeugend musizierten 6. Sonate. Seine Agogik dagegen weist in den schnellen Sätzen in ihrem feurigen Drängen auf den späteren Stil eines Liszt hin, wogegen sie in langsamen Sätzen manchmal ausdruckslos daherkommt. Eine sehr direkt positionierte Mikrofonierung macht überdies vieles übertrieben deutlich, so auch die langen Einschwingvorgänge des rau intonierten Cromorne, Trakturgeräusche, zögerlich ansprechende Zungen und Unebenheiten im Wind. Trotz der Nähe zum Instrument bleibt das Geflecht der Mittelstimmen oft unklar, und es dominieren barock-schnarrende Pedalzungen und diskantbetonte Kornettmischungen.
Vermittelt wird eine Atmosphäre, die der freundlich-positiven Ausdruckskraft des typischen Mendels­sohn innewohnt. Ausnahme sind die wenigen Passagen, die auf einem den Mikrofonen entfernten Teilwerk des Instruments gespielt werden.

Anders Eidsten Dahls Doppel-CD-Box beinhaltet nicht nur die Sechs Sonaten, sondern auch neun Werke ohne Opuszahl, die bedeutsam für die Entwicklung und Entstehung der Sonaten sind. Es sind allesamt Frühfassungen von Sätzen, die der Komponist dann teilweise umge­arbeitet und transponiert in die Sonaten eingefügt hat. Spannend hierzu ist auch die chronologische Einordnung, mit der sich Dahl in seinem Einführungstext beschäftigt. Sein Instrument ist im direkten Vergleich zur manchmal hörbar widerborstigen, 175 Jahre älteren Mooser-Orgel im Handling naturgemäß viel leichter. Alles klingt hier flüssiger, romantischer, streichender bzw. orchestraler, und Dahls Spiel legt es zudem auf den großen Bogen an, trifft damit in der Wahl des Instruments und in seiner Registrierung den Klang, den Ladegast, Walcker, Steinmeyer oder eben auch Schulze
– nach einer Zeit der Stagnation der Orgelkomposition –, angeregt auch durch die Schöpfungen aus der Feder eines wirklich bedeutenden Komponisten wie Mendelssohn, beabsichtigt hatten.
Dahls Gestaltung und Agogik wirken im Vergleich zu denen Ri­ghettis kühler, besonnen und weniger drängend, rubato-ärmer, transparenter und objektiver, obwohl die Aufnahmetechnik vergleichsweise viel Raumklang zulässt. Die auf Mischklang, noble Solostimmen  wie beispielsweise Oboe oder durchschlagende Klarinette und typische Farben (in überzeugenden Pleni, Prinzipal-, Streicher- und Flöten­ensembles) ausgerichtete Registrierung geht ins Sinfonisch-Orches­trale und vermittelt immer orgel­gemäß die Finessen der Mendelssohn’schen Orchesterbehandlung.
Beide Interpreten beherrschen die musikalische Substanz tadellos, wobei ich der Dahl’schen Aufnahme deutlich den Vorzug geben würde.

Stefan Kagl