Reger, Max

Max Reger Edition – Sämtliche Orgelwerke

+ Sammlerbox mit 172-seitigem Booklet im DVD-Format mit 60 farbigen Abbildungen (Vol. 17: Gespräch Martin Schmedings mit Mirjam Wiesemann über dieses Projekt)

Verlag/Label: 17 SACDs, Cybele 175 051500 (2016)
erschienen in: organ 2016/04 , Seite 57

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Das Reger-Jahr 2016 neigt sich dem Ende zu und es hat reiche Früchte getragen, sei es im Kleinen (Choralvorspiele im Gottesdienst) wie im Großen (Konzerte und sogar etliche Gesamteinspielungen der Orgelwerke). Und so, eingedenk der relativ mageren Ernte anlässlich des 100. Geburtstags anno 1973, möchte man heute, Regers Zeitgenossen Rilke zitierend, sagen: „Dies ist ein Herbsttag, wie ich keinen sah! / Die Luft ist still, als atmete man kaum, / Und dennoch fallen raschelnd, fern und nah, / Die schöns­ten Früchte ab von jedem Baum.“
Die schönsten Früchte haben sich vor allem in mehreren Gesamteinspielungen gesammelt, die man vergleichen könnte – aber nicht sollte, jedenfalls nicht im Sinne eines olympischen „Wer ist der Beste?“.  Denn die wenigen Künstler, die das Reger’sche Orgelwerk in toto beherrschen, verdienen allesamt unseren größten Respekt. Was bleibt da noch dem Rezensenten zu tun? Zunächst muss er Rilke verabschieden, denn bei Reger gibt es zwar Abschnitte, die so still sind, als atmete man kaum, aber auch gewal­tige Fortissimo-Eruptionen mit Phonzahlen, die weit über dem liegen, was eine heutige Orgel abzustrahlen oftmals willens und fähig ist. Diese enorme Breite, vom kaum Hörbaren bis zum kaum Erträg­lichen reichend, ist vielleicht das auffallendste Charakteristikum von Martin Schmedings Aufnahmen. Schmeding, Professor für Orgel­literatur an der Hochschule für Musik und Theater „Felix Mendelssohn Bartholdy“ Leipzig, trifft damit ein wesent­liches Moment von Regers Musik und, mehr als das, seiner Zeit überhaupt: Auf der einen Seite die Tendenz zum Monumentalen, ja Massenhaften und auf der anderen zum Hyper-Sensiblen, zur äußersten Feinnervigkeit.
Der Interpret nutzt 13 historische Orgeln der Firmen Wilhelm Sauer und E. F. Walcker, nämlich Sauer (1894/1905) im Bremer Dom für die Opera 46, 57 und 60; Walcker (Lutherkirche Wiesbaden 1911) für die kleineren opp. 129 und 145, aber auch für opp. 127 und 135b; Sauer (Erlöserkirche Bad Homburg 1908) für opp. 27, 30, 40/1+2, aber auch die opp. 59 und 79 b; Walcker (Annaberg-Buchholz 1884) für die frühen opp. 7 und 16; Walcker (Essen-Werden 1900) für opp. 67 Hefte 1+3, 85 und 92; Sauer (Michaelis, Leipzig 1904) für die durchweg kürzeren opp. 47, 80 Hefte 1+2 und 67 Hefte 2 sowie 56; Sauer (Lutherkirche Chemnitz 1908) für je zwei Hefte der opp. 65 und 69. Drei wahre Sauer’sche „Klein­odien“ sind auf Volume 13 versammelt, nämlich Klosterkirche Doberlug (1874 mit 12–6–8 Reg.), Finsterwalde (Trinitatis 1908 mit 11–10–7) und Stift Neuzelle (1906 mit 11–7–6). Auf ihnen erklingen die kleinen Choralvorspiele op. 135a und fünf Stücke ohne Opuszahl (weitere WoOs sind auf die übrigen CDs verteilt); der Zauber dieser relativ kleinen Sauer-Orgeln ist ganz unglaublich! Die große Berliner Domorgel (1905) bringt op. 33 und die Hefte 1+2 der Monologe; die „Ladegast-Sauer-Eule-Orgel“ (Nikolai­kir­che Leipzig, auch eine Biografie …) im Endzustand von 2004 ist mit den drei Choralfantasien op. 52 zu hören. Bleibt noch die Sauer-Orgel der Leipziger Thomaskirche, 1889 als noch mechanische Orgel erbaut, 1908 pneu­ma­­tisiert: Opp. 29 und 73 sowie das 3. Heft der Monologe.
Authentischer geht’s nicht, möchte man sagen, zumal der temperamentvolle Interpret schon rein äußerlich den Eindruck erweckt, als wäre er Regers leibhaftiger Großneffe (was hier einzig als Kompliment gedacht ist!). Allerdings, kleine Einschränkung, bedeutet ja interpres so viel wie Dolmetscher. Und da hätten wir uns mehr „Übersetzung“ gewünscht als bloß die perfekte Beherrschung der „Muttersprache“. Die Konzentration auf zwei Orgelfirmen (die denn auch noch fusionierten) steht dem entgegen: Einmal gab und gibt es ja auch z. B. noch Orgeln von Steinmeyer, Link, Furtwängler, Stahlhuth u. a. m. oder die singuläre Perle von Kevelaer; zum anderen hätte ich gerne auch „trans­ponierten Reger“ gehört, auf neuen Orgeln gespielt, die Regers Musik „im Geiste von …“, aber nicht als Stilkopie präsentieren.
Ein Wort noch zum Booklet: Es ist praktikabel, reich bebildert und durch das charmante Interview (Volume 17: Mirjam Wiesemann im Gespräch mit dem Organis­ten – und das im Sophie-Charlotte-Saal des Berliner Doms: Wow!) durchaus informativ und unterhaltsam. Die Texte stammen größtenteils von Schmeding selbst. „Mit über 1100 Minuten Aufführungsdauer zählt Max Regers umfangreiches Werk nach Johann Sebastian Bach ohne Zweifel zu den gewichtigsten Beiträgen der Orgelliteratur“, ist zu lesen. Man nehme sich also 18 1/2 Stunden Zeit, um das alles zu hören. Besser aber: häppchenweise und möglichst mit Noten – es lohnt sich in jeder Hinsicht!

Martin Weyer