Jürgen Borstelmann
Martin-Luther-Suite für Orgel
Fünf Bearbeitungen authentischer Luther-Lieder ergeben eine farbenreiche Choralsuite für Orgel, bestehend aus Fantasia (Ein feste Burg), Cantilene (Verleih uns Frieden), Capriccio (Nun freut euch lieben Christen gmein), Meditation (Aus tiefer Not) und Toccata (Erhalt uns, Herr). Die Teile der Suite können selbstverständlich auch als Einzelsätze im Gottesdienst oder Konzert aufgeführt werden, erläutert der 1963 geborene Komponist Jürgen Borstelmann, langjähriger Organist auf der Nordseeinsel Sylt, im Vorwort.
Hinter dem Werktitel Fantasia verbirgt sich keineswegs die bekannte kontrapunktische Gattung aus Sweelincks Zeiten, sondern einfach eine freie Phantasie bzw. Fantasie, eine sozusagen aufgezeichnete Improvisation über Luthers Psalmlied (was Fantasia allerdings kaum sachgerecht zum Ausdruck bringt). Ein rhapsodischer Impuls umschreibt zunächst die Kopfzeile des Liedes in Form eines munteren Pedalsolos, türmt sodann akkumulierte und simultane Cluster a 5 nebst Skala zum zehnstimmigen Gipfel C-Dur + 6 auf. In gleicher Weise wird mit der zweiten Liedzeile verfahren. Farblich, dynamisch, nicht mehr frei agogisch kontrastieren dazu kurze, nunmehr mensurfeste Einwürfe. Dur wird mixolydisch verfremdet (T. 12), die freie Fugierung der Phase T. 26 ff. bringt aparte Farben hervor, während sich der magersüchtige Oktavkanon in T. 65:4 ff. als wenig ergiebig erweist. Orgelpunkt, Cluster, Kurzmensurierung, Fragmentierung, variable Satzdichte, Akkorde, Dreiklangsbrechungen sind weitere Mittel, mit denen Jürgen Borstelmann die Improvisation insgesamt recht vorteilhaft gestaltet.
Cantilene und Meditation basieren auf derselben quasi monodischen Satzidee. Ein Klangband aus vier-, fünf-, sechsstimmigen Akkorden und Clustern bildet jeweils die Hintergrundfolie für die Solokantilene. Bei Verleih uns Frieden agiert der Diskant als Solopart, in der Meditation führt die tenorale Pedalstimme den Cantus firmus. In beiden Sätzen wechseln die Schwebeklänge (Gambe, Voix céleste Zunge 8) überwiegend ganztaktig, wobei meist ein bis drei Liegetöne (Haltebögen) die Fortsetzung des Klangstroms sicherstellen spieltechnisch zwei exzellente Beispiele für das Legato absolu in der Lemmens-Dupré-Tradition.
Der Finalsatz atmet das Flair der (romantischen) französischen Toccata, des brillanten Rausschmeißers (Sortie), nunmehr irgendwie protestantisch gewendet. Unisono-Zitate der Liedmelodie, vollgriffige Akkorde, Oktavführungen im Pedal werden überstrahlt vom Perpetuum mobile beider Hände wohlgemerkt: diese Penetranz der motorisch-stereotypen Sechzehntelfolgen ist hier pure kompositorische Absicht. Wenn unter dem flimmernden, farblich changierenden Klangteppich des Manualparts der C. f. im Pedal in pastoser Zeichnung (Oktaven) erklingt, ist der Tonsatz sozusagen auf übergeordnete Zweistimmigkeit reduziert eindrucksvoll, leicht zugänglich für den Hörer.
Die Suite, als Ganzes betrachtet, zeigt weniger einen linear-konsistenten Satz oder Stil als vielmehr den vom Komponisten gepflegten locker-improvisatorischen Duktus.
Klaus Beckmann