Jürgen Borstelmann

Martin-Luther-Suite für Orgel

Verlag/Label: Edition Dohr 16458
erschienen in: organ 2017/04 , Seite 62

Fünf Bearbeitungen authentischer Luther-Lieder ergeben eine farbenreiche Choralsuite für Orgel, bestehend aus Fantasia (Ein’ feste Burg), Cantilene (Verleih’ uns Frieden), Capriccio (Nun freut euch lieben Chris­ten g’mein), Meditation (Aus tiefer Not) und Toccata (Erhalt uns, Herr). „Die Teile der Suite können selbstverständlich auch als Einzelsätze im Gottesdienst oder Konzert aufgeführt werden“, erläutert der 1963 geborene Komponist Jürgen Borstelmann, langjähriger Organist auf der Nordseeinsel Sylt, im Vorwort.
Hinter dem Werktitel Fantasia verbirgt sich keineswegs die bekannte kontrapunktische Gattung aus Sweelincks Zeiten, sondern einfach eine freie Phantasie bzw. Fantasie, eine sozusagen aufgezeich­nete „Improvisation“ über Luthers Psalmlied (was Fantasia allerdings kaum sachgerecht zum Ausdruck bringt). Ein rhapsodischer Impuls umschreibt zunächst die Kopfzeile des Liedes in Form eines munteren Pedalsolos, türmt sodann akkumulierte und simultane Cluster a 5 nebst Skala zum zehnstimmigen Gipfel C-Dur + 6 auf. In gleicher Weise wird mit der zweiten Liedzeile verfahren. Farblich, dynamisch, nicht mehr frei agogisch kontras­tieren dazu kurze, nunmehr mensurfeste Einwürfe. Dur wird mixolydisch verfremdet (T. 12), die freie Fugierung der Phase T. 26 ff. bringt aparte Farben hervor, während sich der magersüchtige Oktavkanon in T. 65:4 ff. als wenig ergiebig erweist. Orgelpunkt, Cluster, Kurzmensurierung, Fragmentierung, variable Satzdichte, Akkorde, Dreiklangsbrechungen sind weitere Mittel, mit denen Jürgen Borstelmann die Improvisation insgesamt recht vorteilhaft gestaltet.
Cantilene und Meditation basieren auf derselben – quasi monodischen – Satzidee. Ein Klangband aus vier-, fünf-, sechsstimmigen Akkorden und Clustern bildet jeweils die Hintergrundfolie für die Solokan­tilene. Bei Verleih’ uns Frieden agiert der Diskant als Solopart, in der Meditation führt die tenorale Pedalstimme den Cantus firmus. In beiden Sätzen wechseln die Schwebeklänge (Gambe, Voix céleste – Zunge 8’) überwiegend ganztaktig, wobei meist ein bis drei Liegetöne (Haltebögen) die Fortsetzung des Klangstroms sicherstellen – spieltechnisch zwei exzellente Beispiele für das Le­gato absolu in der Lemmens-Dupré-Tradition.
Der Finalsatz atmet das Flair der (romantischen) französischen Toccata, des brillanten „Rausschmeißers“ (Sortie), nunmehr irgendwie protestantisch gewendet. Unisono-Zitate der Liedmelodie, vollgriffige Akkorde, Oktavführungen im Pedal werden überstrahlt vom Perpetuum mobile beider Hände – wohlgemerkt: diese „Penetranz“ der motorisch-stereotypen Sechzehntelfolgen ist hier pure kompositorische Absicht. Wenn unter dem flimmernden, farblich changierenden Klangteppich des Manualparts der C. f. im Pedal in pastoser Zeichnung (Oktaven) erklingt, ist der Tonsatz sozusagen auf übergeordnete Zweistimmigkeit reduziert – eindrucksvoll, leicht zugänglich für den Hörer.
Die Suite, als Ganzes betrachtet, zeigt weniger einen linear-konsis­ten­ten Satz oder Stil als vielmehr den vom Komponisten gepflegten locker-improvisatorischen Duktus.

Klaus Beckmann