L’Orgue Soliste

Musik für Orgel und Orchester. Tommaso Maria Mazzoletti an der Brondino-Vegezzi-Bossi-Orgel der Kirche St. Paul in Gland (Schweiz); Helvetica Orchestra, Ltg. Eugène Carmona

Verlag/Label: Brilliant Classics 96955 (2022)
erschienen in: organ - Journal für die Orgel 2023/04 , Seite 63

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Zwei der großen Orgelkonzerte haben Tommaso Maria Mazzoletti und das Helvetica Orchestra eingespielt: Marco Enrico Bossis Opus 100 aus dem Jahr 1900 und Francis Poulencs g-Moll-Konzert von 1938. Dazwischen erklingt, selten zu hören, die Hymne für Orgel und Orchester von Joseph Jongen.
Orgelsolist Mazzoletti freute sich 2021 über die Erweiterung seines Dienstinstruments in der reformierten St.-Pauls-Kirche in Gland am Genfersee: Die Firma Vegezzi-Bossi hatte eine Orgel mit 19 Registern von 1968 auf stattliche 45 Stimmen gebracht. Schlusspunkt der Saison 2021/22 von Mazzolettis Konzertreihe „L’Orgue en Jeux“ war ein Konzert, aus dessen Anlass offenbar die Aufnahme entstand.
Während vom Poulenc-Konzert viele ausgezeichnete Einspielungen vorliegen, ist Bossis spätromantisch-süffiges Konzert offenbar die zurzeit einzige, die in Deutschland erhältlich ist. Das ist schade. Als Konzertdokument mag das Album seinen Sinn haben – musikalisch enttäuscht es. Zwar beherrscht Mazzoletti die Solopartien zweifellos, und die Koordination mit Dirigent Eugène Carmona ist gut. Das Orches­ter allerdings zeigt, kurz gesagt, viele Schwächen, die Aufnahme wirkt topfig und ohne Tiefe. Besser beraten ist man mit den Einspielungen etwa von Ulrich Meldau und dem Symphonischen Orchester Zürich (Motette, 2000) oder von Martin Haselböck und den Heidelberger Philharmonikern (NCA, 1996), die manchmal gebraucht erhältlich sind.

Eine angenehme Überraschung ist dagegen Paolo Bottinis Doppel­album mit Orgelstücken von Luigi Picchi. Über den 1899 in der Provinz Pavia geborenen Kirchenmusiker informiert der Booklettext: Nach Studien in Mailand wurde Picchi 1928 Domorganist in Como. Er schrieb vor allem liturgische Chormusik und pädagogische Werke und gab ab 1954 eine Zeitschrift für Orgelmusik heraus; seine Orgelstücke erschienen unter anderem dort, aber auch in anderen Periodika. Picchi starb 1970. In Como ist heute die Bischöfliche Musikschule nach ihm benannt.
Picchis Tonsprache ist tonal, geprägt von sicherem Empfinden für einleuchtende Melodik, Harmonik und Form; stilistisch entspricht sie populärer angelsächsischer Konzertliteratur der Jahrzehnte vor und nach dem Ersten Weltkrieg. Kaum ein Stück auf dem Album ist länger, viele sind kürzer als fünf Minuten und nach Titel und Länge für die Liturgie gedacht. Die von Polyphonie unbelasteten Charakterstücke wirken spieltechnisch unkompliziert, aber stets melodisch und rhythmisch prägnant. Das liegt auch daran, wie Paolo Bottini sie darbietet: Mit Geschmack, Klangsinn und Blick fürs Detail nimmt er alles gerade so ernst, wie die Musik es verträgt. Die Orgel im Barozzi-Saal des Mailänder Blindeninstituts macht dabei eine ausgezeichnete Figur, die Aufnahmetechnik wird ihr mit Klarheit und Wärme gerecht.

Friedrich Sprondel