Herchenröder, Martin

Linien aus Nachtlicht – Organ Works

Verlag/Label: NEOS 11504 (2015)
erschienen in: , Seite 59

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Martin Herchenröder – Komponist, Organist und Musikwissenschaftler, Professor an der Universität Siegen – gehört zu den synästhetisch veranlagten Künstlern, denen das Farbenhören in die Wiege gelegt wurde. Die prominentesten Farbenhörer sind Olivier Messiaen und der Maler Paul Klee, dem sich Herchenröder besonders nahe fühlt. 

Dass es ihm darum geht, das „Mit- und Gegeneinander von Bild und Musik“ zu erkunden, verraten schon etliche seiner Werktitel. Unmittelbar auf Klees Wachstum der Nachtpflanzen antwortet das dritte von Herchenröders „Paul-Klee-Blättern“: Linien aus Nachtlicht (1991). Klees bildnerischer Lichtregie ähnlich, wechseln obertonreiche Klänge in rascher Bewegung mit dunkelfarbenen, bordunartigen Grundtönen. Dem „Wachstum der Pflanzen“ entsprechen zwei melodische Fäden, die sich allmählich ineinander verwickeln. 
Nächtliches Gelichter zaubert auch das fünfte „Paul-Klee-Blatt“ Meerleuchten (2011) herbei. Tongirlanden gegen Haltetöne ausspielend, erinnert es an Meereswellen, die sich an Ufern brechen und die maritimen Bakterien zum Leuchten bringen. Aufflimmern und Zerschellen bedingen einander wie Leben und Tod. Eben dies scheinen die immer wieder einbrechenden Akkorde anzudeuten – ein Reflex auf Klees Öl­bild Insula dulcamara, das auf die Giftpflanze Solanum dulcamara (Bittersüßer Nachtschatten) verweist.
Viele Gemälde Klees vermitteln den Eindruck, als sehnten sie sich nach der Dimension der Zeit. Eben diese Sehnsucht lösen Herchenröders „Paul-Klee-Blätter“ ein. Demgegenüber wecken seine Zyklen zeit raum I und II die Illusion einer raumgewordenen Zeit. Diese Orgelstücke sind buchstäblich himmelwärts gerichtet. Sie „erhören“ – wie ihre (Rilke entliehenen) Untertitel andeuten – Sonne, Mond und Sterne, Wind und Wetter. Traumwandlerisch vernehmen sie „Sterngezwit­scher“, „Lichtklang“ und „Himmels­atem“ – so im „Ricercare“, das den Zyklus zeit raum II (2001/2008) beschließt. Hier zieht der Komponist nachgerade alle Register: da formstreng, dort wildwüchsig, mal klangmächtig, mal filigran. „Höre, mein Herz“, zitiert er am Notenrand Rilkes erste Duineser Elegie. 
„Stimmen, Stimmen. Höre mein Herz, wie sonst nur / Heilige hörten: dass sie der riesige Ruf / aufhob vom Boden …“, lautet die ganze Textstelle. Auch die anderen Stücke der Werkgruppe hat Herchenröder mit „Ausrissen“ des Prosagedichts beschriftet, wobei es dem Hörverständnis hilft, den poetischen Kontext mitzudenken. Zu seinem dreiteiligen Zyklus zeit raum I; ad fontes (1996) erklärt er im Vorwort, was in der Zeit geschehe, sei unumkehrbar. Musik aber mache es möglich, sie vom Ende her aufzurollen: mittels rückläufiger Formen, die er als Abbilder der Ewigkeit begreift. 
Seit 1991 schrieb Herchenröder alle Orgelwerke für bestimmte Instrumente. Wegen ihrer unterschiedlichen Stimmungssysteme empfahl sich für die Einspielung eine symphonische Universalorgel. Wobei die Wahl auf die neue Woehl-Orgel im Studio Acusticum im nordschwedischen Piteå fiel. Eine Entscheidung, zu der man dem fabelhaften Organisten-Trio nur gratulieren kann.
Lutz Lesle