Lieblingsstücke, Folge 9: Osteel und Uttum

Orgelmusik aus Renaissance und Barock. Agnes Luchterhandt an der Orgel der Warnfried-Kirche in Osteel; Thiemo Janssen an der Orgel der evangelisch- reformierten Kirche in Uttum

Verlag/Label: Nomine (2021)
erschienen in: organ - Journal für die Orgel 2022/03 , Seite 62

Bewertung: 4 von 5 Pfeifen

Ostfriesland: das Gelobte Land der historischen Orgelbaukunst! Nirgendwo sonst finden sich vielhundertjährige Instrumente mit authentischem Innenleben in gleicher geografischer Dichte. Zwei der ältesten und charaktervollsten Orgeln besitzen die Kirchen in Osteel südlich von Norden und Uttum in der
Gemeinde Krummhörn zwischen Greetsiel und Emden.
Ihr splendides diskografisches Doppelporträt verdanken sie einer gestaffelten Liebesgeschichte. Bevor sich Thiemo Janssen und Agnes Luchterhandt füreinander entschieden, hatten sie sich schon als Studierende jeweils in eine der beiden Orgeln verliebt. Inzwischen teilen sie sich das Organisten-Amt an der berühmten Arp-Schnitger-Orgel der Ludgerikirche in Norden. Wenn er als Solist und Kursdozent außer Landes weilt, versieht seine Frau den Orgeldienst. Als Kreiskantorin geht es ihr zudem um die Belebung der Kirchenmusik in den ländlichen Gemeinden.
Als älteste Orgel der Hannoverschen Landeskirche feierte die Edo-Evers-Orgel in Osteel 2019 ihren 400. Geburtstag. Bei ihrer Restaurierung 1994/95 musste Jürgen Ahrend von ihren 13 Registern nur die Mixtur rekonstruieren, wiewohl Evers teils sogar ältere Pfeifen verwendet hatte. Um die Klangpalette der neun Hauptwerks- und vier Brustwerksregister (mit angehängtem Pedal) einzeln und in kombinatorischer Vielfalt hörbar zu machen, beginnt Agnes Luchterhandt ihr erlesenes Recital mit einem Präludium des Lübecker Marienorganisten Dieterich Buxtehude, das nach teils fantasierenden, teils fugierenden Abschnitten in eine Art Passacaglia mündet. Es folgen ein Lautenlied von John Dowland, aufs Virginal übertragen von William Byrd, Choralvariationen eines Verwandten J. S. Bachs und farbenreiche Variationen aus einer Sarabanda con Partite ungeklärter Herkunft über ein Thema von Lully. Ein angehängtes „Popstück“ des Berliner Organisten Michael Schütz zeigt: Die alte Orgel leidet gar Fetziges von heute.
Auch die kleine, pedallose Orgel von Uttum mit neun Manual-Registern, um 1660 von einem un­bekannten Meister erbaut, enthält ältere, stark bleihaltige Pfeifen, da­runter das wohl älteste noch spielbare Trompetenregister. 1956/57 erstmals durch Jürgen Ahrend und 2020/21 erneut von Hendrik Ahrend restauriert, avancierte sie 2021 zur „Orgel des Jahres“. Um ihr kraftvoll-klares Klangspektrum zu entfalten, wählte Thiemo Janssen Werke der späten Renaissance und des Frühbarock. Mit Liedvariationen und einer Toccata bildet der Amsterdamer „Organistenmacher“ Sweelinck den prächtigen Rahmen, bevor zehn Liedvariationen seines Hallenser Schülers Samuel Scheidt die Finger fordern. Den Bogen zur norddeutschen Orgelschule schlägt der Hamburger Katharinen-Organist Heinrich Scheidemann mit der Kolorierung einer Motette seines Jacobi-Kollegen Hieronymus Praetorius.

Lutz Lesle