Bosch, Michael / Klaus Döhring / Wolf Kalipp (Hg.)

Lexikon Orgelbau

mit Audio-CD

Verlag/Label: Bärenreiter, Kassel 2007
erschienen in: organ 2010/02 , Seite 60

Der Orgelbau birgt eine Fülle faszinierender „Geheimnisse“, weshalb es Sinn macht, ein (weiteres) Lexikon Orgelbau herauszubringen.  Übernommen hat diese dankenswerte Aufgabe Orgelbaumeister (und Res­taurator) Michael Bosch gemeinsam mit den Musikologen Klaus Döh­ring und Wolf Kalipp. Bei der Text­erstellung standen weitere Orgelfachleute wie Michael Gerhard Kaufmann, Thomas Lipski oder Hans Schmidt-Mannheim hilfreich zur Seite. Erschienen ist das Lexikon Orgelbau bei Bärenreiter (mit Dokumentations-CD).
Kein Nachschlagewerk wird je den Anspruch auf Vollständigkeit oder Letztgültigkeit für sich reklamieren, was auch die Autoren des vorliegenden Bandes nicht tun. Sie entwickelten ihr Lexikon „aus der Notwendigkeit, Orgelliebhabern und professionell mit der Orgel Beschäftigten […] das Grundlagenwissen des Orgelbaus zu vermitteln“. Sie haben sich eigenem Bekunden gemäß „in erster Linie um praxisnahe Informationen bemüht“ und wagen die optimistische Hypothese, dass der geneigte Leser die Lexikon-Lektüre zum Anlass nehmen wird, „sich über die vorliegenden Artikel hinaus weiter mit dem Spannungsfeld internationaler Orgelkultur zu beschäftigen“. So weit, und so gut! Selbst wenn man die hiermit implizit gemachten Einschränkungen zur Kenntnis nimmt, könnten Generalverweise auf Praxisnähe und Benutzerfreundlichkeit keinesfalls den Doppelanspruch auf definitorische Eindeutigkeit und Zuverlässigkeit der lexikalischen Information mindern. Das von den Autoren eingangs reklamierte „Grund­­lagenwissen“ sollte vor allem verlässliches Wissen bieten. Beide Kriterien sind im Falle des vorliegenden Bärenreiter-Bandes jedoch nicht oder nicht hinreichend erfüllt.
Der kritische Lexikon-Benutzer wird sich an zahlreichen Stellen verdutzt die Augen reiben, so unbeholfen-merkwürdig, ja hilf- und orientierungslos kommen die Umschreibungen vieler hier verhandelter Fachbegriffe und Sachverhalte daher. Die Darstellungen sind oft substanzlos, fachlich defizitär oder schlicht falsch (die Beispiele sind leider Legion!). So ist die Erklärung „Magazinbalg – allgemeine Bezeichnung für die Bälge als Windvorrat (Windmagazin)“ weder besonders tiefschürfend oder differenziert, noch erweist sie sich als besonders hilfreich in der Praxis. Der Ausdruck „Orgel schlagen“ soll angeblich von der Auffassung herrühren, alte Orgeln seien ungemein schwer zu spielen gewesen. Dass in der Frühzeit des Orgelbaus die „Tasten“ tatsächlich bis zu 10 cm breit und 30 cm lang waren, weshalb sie mit den Fäusten/Ellbogen „geschlagen“ wurden, scheinen die Autoren nicht zu ahnen.
Der minimalistische Artikel „Plein jeu“ (keine fünf Spaltenzeilen) definiert den Begriff als „Principalplenum, einschl. Mixturen (,Mixturenplenum‘), jedoch ohne Zungen“. Tatsächlich können ebenso Bourdons 16’/8’ Bestandteil des Plein jeu sein. Überdies entspricht es gängiger altfranzösischer Registrierpraxis, z. B. den Hymnus in den zahllosen cantus firmus-gebundenen Plein jeu-Sätzen solistisch auf der Trompette 8’ zu führen, was dem durch die Textverantwortlichen erklärten „Zungenverbot“ widerspricht; zudem kein Wort zur Unterscheidung von Grand Plein Jeu und Petit Plein Jeu. Dass „Plein jeu“ seit dem späteren 18. Jahrhundert auch als eigenständiger Registername (Clicquot) begegnet, erfährt der Leser aus diesem „praktischen Ratgeber“ nicht.
Allerlei Wirres und Ungereimtes liest er dafür unter „Bombarde“: „Zungen-Reg. 16’ oder 32’ im Ped. oder auch 8’ und 4’ im Manual …“ Woher nehmen die Autoren ihre Überzeugung, dass es im Manual nur 8’-/4’-Bombarden gäbe (der Orgelbau Frankreichs kennt natürlich die vollständige Batterie auf 16’-Basis)? Irreführend bis unsinnig auch die allgemeine Behauptung, die Bombarde würde „im Ped. etwas schwächer als die Posaune intoniert“. Die Autoren toppen ihr Verwirrspiel mit der steilen These, dass man im französischen Orgelbau unter Bombarde alle Rohrwerke 16’ und 32’ verstünde (was ist mit den unzähligen Bombardes 8’ französischer Orgeln?). Der Artikel schließt mit grotesken Belehrungen etymologischer Art, dass der Name Bombarde kaum vom französischen „Donnerbüchse“ her­zuleiten sei, sondern „eher von „Bommer“ bzw. „Pommer“ – die gän­gige Übersetzung für eben dieses „Pommer“ lautet im Französischen schlicht „Bombarde“, was im Eifer des Gefechts niemand realisiert zu haben scheint.
Von bizarrer Logik erweisen sich auch die Einlassungen zum „Außen­turm (Seitenturm)“. Diese gibt es angeblich nur als große (!) flankierenden Pfeifentürme der „Haupt­orgel“ und kategorisch bestückt nur mit Prinzipalen aus Hauptwerk oder Pedal (niemals also Streicher?!). Wie steht es dann aber um die ungezählten „Außentürme“ bei Rückpositivgehäusen? Ebenso bleibt der Begriff „Auxiliaire“ unterkomplex bestimmt. Hierunter sind bekanntlich ebenso frei zuschaltbare Regis­ter (oft horizontale Zungenbatterien oder ganze Werksektionen) zu verstehen, die keiner eigenen Klaviatur zugeordnet sind. Der orgelrelevante Themenkomplex „Stimmungssyste­me“ bleibt nahezu unbeleuchtet. Was unter „mitteltönig“ zu verstehen ist, bleibt unklar; historische Stimmungen scheint es nur von Andreas Werckmeister gegeben zu haben …
All dies ist für solides „Grundlagenwissen“ sicher zu wenig, zumal wichtige Begriffe fehlen (Ravallement – Subsemitonien …). Entlegenen Stichworten (Behörden – Kirchliche Gremien …) wurde dafür ungewöhnlich breit Raum gewährt. Ärgerlich wird es, wo Sachverhalte manifest falsch dargestellt sind: Wer bei Bosch, Döhring und Kalipp unter „Chorton“ nachliest, wird mit unglaublichem Nonsens bedient: Chorton und Cornetton werden offensichtlich gleichbedeutend verwendet, wobei musikwissenschaftliche Experten eigentlich wissen müssten, dass zwischen beiden ein Unterschied bis zu einem Ganzton Abweichung herrscht. Der „Chorton“ wurde von der Orgel abgenommen („Orgelton“), der höhere „Cornet(ten)ton“ hingegen ist nach dem „stillen“ oder „weißen“ Zink benannt, der über ein einge­drech­seltes Mundstück verfügte, mit stabiler Stimmung. Die „Stammtisch­erklärung“, historische Stimmtöne seien pragmatischen Erwägungen geschuldet (da durch höhere Grundstimmung die Pfeifen kürzer ausfielen und der Orgelbauer kostengüns­tiger arbeiten konnte), zielt ins Lä­cherliche. Damit nicht genug: Als Folge solch „merkantiler“ Umstände sei insbesondere ein Musizieren mit anderen Instrumenten damals nahezu ausgeschlossen gewesen …Wer solch abstruse Behauptungen in den Raum stellt, ohne dafür einen einzigen Quellenbeleg zu liefern, handelt freilich fahrlässig an Käufern und Lesern des Lexikons.
Im Gegensatz zum Expert Orgel-Lexikon (Besprechung s. o.) bietet das Bären­reiter-Pendant farbige Ab­bildungen und einige Zeichnungen. Die Freude hierüber wird rasch getrübt angesichts fehlerhafter Bild­legenden: So werden bei Abbildung 18 Chamaden stilwidrig als „Bombardwerk“ bezeichnet, wobei die Autoren der Meinung sind, dass diese „in der romant. frz. Orgel im Schwellwerk liegend (!) angebracht“ seien. Wer denkt sich solchen Unfug eigentlich aus? Im Silbermann-Prospekt des Freiberger Doms wol­len die Herausgeber „große Pedaltürme“ ausgemacht haben. In der Legende zu Abbildung 83 stimmen manche Zuordnungen nicht! Abbildung 100 zeigt keineswegs einen „neo-romanischen“ Prospekt; Abbildung 109 bildet den noch unres­taurierten Zustand der Silbermann-Orgel zu Ebersmünster ab etc. etc.
Als wohlfeile Dreingabe findet sich am Schluss des Bandes ein internationales Adressenverzeichnis zum Thema Orgel(bau).
Auch zur beigefügten CD ließe sich einiges anmerken. Belassen wir es an dieser Stelle bei der (rhetorischen) Frage, weshalb der Klangteil in der finalen Präsentation eines „französisch-symphonischen Crescendos“ (= mehr oder weniger linear aufregistrierte Endlossequenzen) gip­felt, „bis zum Grand Chœur“, ohne sich das dynamische Verschränkungsprinzip des Crescendo symphonique bei Schwelleraktivität zu den Wechseln der sukzessive miteinander verkoppelten Manuale erkennbar zunutze zu machen. Hinzu kommt die ungüns­tige Wahl des Demonstrationsinstruments (Kassel, Friedenskirche: W. Bosch 1992, op. 860). Der Klang dieser Orgel ist vom orchestralen Idiom französisch-symphonischer Orgeln um Lichtjahre entfernt. Dabei wäre authenti­sches Tonmaterial heutzutage leicht zu beschaffen gewesen, zumal sich die erwünschten klanglichen Effekte weit instruktiver anhand einschlägiger Originalliteratur hätten demonstrieren lassen. Ein paar französische Registernamen in einer ansonsten neobarocken Disposition machen eben noch lange keinen französischen Orgelklang. Papier ist ja bekanntlich geduldig, das Ohr des Hörers ist es weniger!
Der Band kostet stolze 36,50 Euro – obwohl ohne ergänzende Fach­literatur in weiten Teilen praktisch wertlos. Die editorische Nachlässigkeit, mit der hier zu Werk gegangen wurde, erweist sich nicht zuletzt als schädlich für die Sache und das Ansehen der Orgel selbst. Nicht minder ist es peinlich für den publizierenden Verlag (der sich nicht nur in vorbildlicher Weise um die Edi­tion von Orgelmusik aller Stilrichtungen und Epochen verdient gemacht hat und darüber hinaus ausgezeichnete Buchreihen in seinem Musikbuchprogramm betreut), dass er diese Publikation – offenbar ungeprüft – in sein Programm aufgenommen hat. Wenn Bärenreiter an einem solchen Titel künftig festhalten will – was nur wünschenswert wäre –, sollte man sich um eine baldige Revision der Erstauflage „an Haupt und Gliedern“ bemühen.

Wolfram Adolph