Busch, Hermann J. / Matthias Geuting (Hg.)

Lexikon der Orgel

Orgelbau, Orgelspiel, Komponis­ten und ihre Werke, Interpreten

Verlag/Label: Laaber, Laaber 2008
erschienen in: organ 2010/03 , Seite 58

Unter der jüngeren Orgellexikon- und Handbuchliteratur in deutscher Sprache ist das von Hermann J. Busch und Matthias Geuting im Laaber-Verlag herausgegebene Lexikon der Orgel – dies sei vorausgeschickt – mit 906 Seiten nicht nur die umfänglichste, sondern mit Abstand seriöseste Publikation. Die Besonderheit des gewichtigen Einbänders liegt vorab in seinem enzyklopädischen Anspruch begründet, möglichst das Ganze des kultur­historischen Phänomens der Orgel nach seiner technischen, musikalischen und historisch-ästhe­tischen Dimension hin zu traktieren. Dieser Anspruch dokumentiert sich nicht zuletzt in der Zahl von 109 mitwirkenden AutorInnen. Im Rahmen des pragmatisch Machbaren muss Verlag und Herausgebern attestiert werden, dass hier solide editorische Arbeit geleistet wurde und dass dafür mehrheitlich sachkundige AutorInnen verpflichtet wurden; in vielen Fällen die ersten (forschenden) Spezialisten für ihren Gegenstand.
Dass die lexikalische Qualität der Einzelartikel insgesamt gleichwohl schwankt, ist dem Umstand geschuldet, dass sich Kompetenzen angesichts eines derart ausgeweiteten Autorenkreises kaum einheitlich verteilen (allerdings sollte der Lexikonbenutzer davon tunlichst nichts mitbekommen). Die Herausgeber scheinen diese Achillesferse ihres editorischen Unterfangens erkannt zu haben. Wie anders ließe sich der euphemistisch formulierte Dank an die AutorInnen mit „ihren unterschiedlichen, eigenverantwort­lichen Perspektiven und Herangehensweisen“ seriös deuten? Es wäre freilich vorab die Aufgabe einer Lexikonredaktion, im Vorfeld zutage tretenden editorischen Inkompatibilitäten der Darstellung wie un­einheitliche methodische Zugänge einer offensichtlich doch in Teilen disparaten Autorenschaft, im Pri­märinteresse benutzerfreundlicher Übersichtlichkeit zu harmonisieren. Und schon des außerordentlich hohen Anschaffungspreises wegen (knapp 150 Euro sind schließlich kein Pappenstiel) müsste das wissenschaftliche Verlagslektorat dies eigentlich auch gewährleisten. Ton Koopman, der den Band prominent bevorwortet hat, singt ein panegyrisches Loblied auf das publizistische Unterfangen: „Alles, was über die Orgel wissenswert und interessant, für den Berufsorganisten unabdingbar ist, findet sich in diesem alle Dimensionen sprengenden Kompendium“ – und schießt in der laudatorischen Euphorie über das Ziel gehörig hinaus.
Obgleich die Laaber-Veröffentlichung gegenwärtig die lexikalische Informationsquelle der ersten Wahl zum Thema darstellt, finden sich darin dennoch Licht und Schatten gleichermaßen verteilt. An vielen Stellen bleiben nicht unerhebliche fachliche Informationsdefizite. Bedenkt man allerdings, dass der Vergleichsband Lexikon der Flöte derselben Reihe auf gleichfalls 900 Seiten die Aspekte um das Thema Flöte (Querflöte und Blockflöte) unterbringt, müsste ein nicht weniger akribisches Nachschlagewerk über den um ein Vielfaches komplexeren Gegenstand Orgel vorab drei bis fünf Bände für sich reklamieren.
Eine Hauptabteilung bilden die Kom­ponistenartikel, wobei doch gleich ins Auge fällt, dass diese bezüglich Umfang und Informationswert untereinander differieren; einige – vor allem noch lebende experimentelle – Komponisten erfahren, ohne dass dies für den Leser immer nachvollziehbar wäre, eine auffällig breite Behandlung; andere werden dagegen in lapidarer Kargheit abgehandelt – oder auch gar nicht! Man sucht z. B. vergeblich nach dem Fauré-Schüler Jean Roger-Ducasse (der 1935 in der Nachfolge von Paul Dukas eine Professor am Pariser Conservatoire innehatte) oder dem britischen Spätimpressionisten Percy Whitlock etc. Ebenfalls orgelrelevante Namen wie Samuel Barber, David Pinkham oder Ned Rorem – um nur einige nicht ganz unerhebliche Vertreter der US-amerikanischen Komponistenszene zu benamen – fehlen ebenfalls.
Andererseits befriedigen die existierenden Komponistenartikel auch nicht durchweg. Während diejenigen über Buxtehude, Franck, Froberger, Lübeck, Mendelssohn, Messiaen, Pachelbel, Rheinberger (um nur einige zu nennen) ganz vorzüglich sind, fallen andere merkwürdig knapp bis unbefriedigend aus. So fokussiert der Artikel „Marcel Dupré“ überwiegend biografische Details, insbesondere seines pädagogischen Wirkens. Über Duprés epochale und zum Teil stilbildende Bedeutung als hochproduktiver (und innovativer) Komponist für die Orgel erfährt der Leser Weniges bis Uncharakteristisches. Irritierend auch die unglücklich verzerrte Darstellung, die das Orgelschaffen Jehan Alains erfährt (über die Musik von Albert und Olivier Alain schweigt sich das Lexikon im Übrigen aus!), wobei dessen emblematisches Spätwerk Trois Danses (1937-39) en passant als „gelungener Versuch [sic!] eines mehrsätzigen Werkes“ etikettiert wird, ohne dass ein einziges analytisches Wort auf Form, Programm oder musikalische Faktur verwendet würde. Diese Verfahrensweise ist bei einem absoluten Gipfelwerkwerk der französischen Orgelmusik – vielleicht des gewichtigsten zwischen 1918 und 1945 überhaupt – mehr als diskutabel, zumal die recht weitschweifigen Einlassungen bezüglich Alains Litanies im Vergleich geradezu geschwätzig ausfallen. Es offenbaren sich hierin doch zeitgeistige, in ihrer Subjektivität perspektiv-verengende Wer­tungs­tendenzen (der Herausgeber selbst?): Die Romantik des 19. Jahrhunderts im Allgemeinen und die postmoderne Gegenwart erfahren eine prioritäre Behandlung.
Der Hauptartikel „Johann Sebas­tian Bach“ stammt aus der Feder des britischen Bach-Forschers Peter Williams und zeichnet sich durch die aus seiner dreibändigen Bach-Studie und Nachfolgepublikationen geläufigen Akzentuierungen und Pointierungen aus. Vielleicht hätten neben Carl Philipp Emanuel und Johann Christoph Bach doch weitere profilierte Vertreter der Musikerdynastie Bach sinnvoll Aufnahme verdient.
Evidente Defizite lassen sich auch bei den Interpretenartikeln benamen. Weshalb fehlen die Namen so vieler international bedeutender Kon­zert­organistInnen wie etwa Pierre Labric, Jean Costa, Martin Günter Förstemann, Marylin Mason, Sir George Thalben-Bal, Karl Richter (!), Wolfgang Rübsam (als erster deutscher Chartres-Sieger und erfolgreichster deutscher Organist auf dem Fonomarkt) oder der seit den 1960er Jahren in Deutschland kontinuierlich präsente Nicolas Kynaston etc. etc.? Nach dem Geburtsjahrgang 1955 scheint es überdies – folgt man diesem Lexikon – gar keine OrganistInnen von Rang mehr gegeben zu haben.
Nach dem etwas verwirrend-verworrenen Artikel „Improvisation“ (von Gerd Zacher) soll die Improvisation im deutschen Sprachraum – absurderweise – zwischen Bruckner und der Gegenwart faktisch ausgestorben gewesen sein („… fast nur in der französischen Tradition gepflegt“, S. 335).
Viele schmerzliche Lücken offenbart der Band auch in seiner recht willkürlich-selektiven Auswahl der hier näher behandelten Orgelbauer. Wieso erfahren lokale Orgelbauer der zweiten Garde relativ ausführlich Aufnahme, während Orgelbaugiganten wie Ernest M. Skinner oder etwa die gesamte britische Orgelbauerdynastie Hill, die bekanntlich weit über die Nationalgrenzen ihrer Heimatstaaten hinaus gewirkt haben, im Artikelverzeichnis fehlen? Woher soll der fachinteressierte Leser denn sonst kompetente Informationen beziehen, wenn nicht aus einem 900-seitigen Fachlexikon mit enzyklopädischem Anspruch?
Ganz vorzüglich und vorbildlich sind dafür beispielsweise die interpretationsgeschichtlichen Beiträge „Generalbass“ und „Ornamentik“ geraten. Ungereimtheiten begegnen zuweilen in dem sonst recht soliden Registerkundeteil: Irreführend, weil manifest falsch, ist etwa die Erklärung auf S. 732: „Erst um 1890 montierte Cavaillé-Coll die Trompette en chamade horizontal im Prospekt.“ Der Autor scheint die wesentlich früheren spanischen Orgeln des Meisters nicht zu kennen!
Der Band ist schwarz-weiß bebildert, mit schematischen Darstellungen und einem Bildanhang mit 17 Farbtafeln (Orgelprospektdarstellungen mit Dispositionen etc.). Eine knappe Bibliografie, ein Glossar, ein Verzeichnis einschlägiger Museen und eine Sammlung von URLs („Die Orgel im Internet“) runden das Lexikon ab. Vergleichsweise selten auftretende Druckfehler stellen keinen relevanten Kritikpunkt dar.
Es wäre wünschenswert, dass die – seitens des Verlags bereits angekündigte – baldige Revision manche dieser Kritikpunkte eliminiert. Dazu wäre es hilfreich, vorab sämtliche neuen Artikel nach einem rub­rikenspezifisch je einheitlich vor­gegebenen Gliederungsschema zu elaborieren bzw. die vorhandenen Artikel daraufhin neu zu überarbeiten. Hypertrophien oder Redun­dan­zen im Marginalen sollten reduziert werden, Fehlendes wäre entsprechend zu supplieren. Insbesondere ließe sich das System der gegenseitigen Verweisungen optimieren, zumindest aber konsequenter handhaben. Eine effektive Erschlie­ßungshilfe für ein derart inhaltsreiches Werk würde gewiss eine (zusätzliche) Volltext-CD-ROM bieten.
Im Rahmen der bestehenden Orgelhandbuchliteratur wird das kompetente Nachschlagewerk seinen verdienten ersten Rang behaupten. Die Vorbereitung einer praktischen, erschwinglichen Paperback-Ausgabe – auch für den Geldbeutel weniger betuchter Musikstudierender – bliebe ebenfalls ein Desiderat an den Verlag. Für jede gediegen ausgestattete organologische Bibliothek ist der Band jedenfalls schon jetzt unverzichtbar.

Wolfram Adolph