Leipziger Orgeln um Felix Mendelssohn Bartholdy

Werke von J. S. Bach, Felix Mendelssohn Bartholdy, Robert Schumann, Niels Wilhelm Gade und W. A. Mozart sowie Transkriptionen und Improvisationen

Verlag/Label: Genuin, GEN 89152 (2009)
erschienen in: organ 2010/01 , Seite 64

Bewertung: 5 Pfeifen

Mit dem Leipziger Wirken des Zelter-Schülers Mendelssohn verbindet sich namentlich im Bewusstsein der OrganistInnen das musikhistorisch folgenschwere Phänomen der so ge­nannten „Bach-Renaissance“ in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. In der Berliner Sing-Akademie fand am 11. März 1829 nämlich jene legen­däre öffentlichkeitswirksame Wie­dertaufe (von Mendelssohns Einrichtung) der Bach’schen Matthäuspassion unter Mendelssohns Leitung statt. Der gerade zwan­zigjährige Komponist bereitete eines der spektakulärsten „Revivals“ der abendländischen Musikgeschichte vor: „Streng ist Sebas­tian allerdings und ernst, aber so, daß selbst bei allem Klagen, Jammern, Reue, Buße, die Heiterkeit und Freude des Daseyns auf das wunderbarste durchbrechen […] Ich muß es Ihnen sagen, ich glaube hier den Tonsetzer gefunden zu haben, nach dem ich lange suchte, den nämlich, der mit Shakespeare zu vergleichen ist.“ So äußerte sich unmittelbar nach der Aufführung der Historiker Johann Wilhelm Loebell gegenüber Ludwig Tieck. Im Gefolge dieser Ereignisse konnte 1850 – anlässlich des 100. Todestages des Komponisten – die „Bach-Gesellschaft zu Leipzig“ gegründet werden. Das einzige Gründungsziel be­stand damals in der Herausgabe der historisch-kritischen Gesamtausgabe sämtlicher Bach’scher Werke (seit 2007 nunmehr mit der Vollendung der NBA vorläufig abgeschlossen).
Mendelssohn war im August 1835 nach Leipzig übersiedelt, wo er am 4. Oktober im Gewandhaus mit der Ouvertüre Meeresstille und Glückliche Fahrt debütierte. Seine „Gewandhauskonzerte“ wur­den mit Begeisterung aufgenommen. Im Gewandhaus gründete er 1843 auch das Leipziger Conservatorium als erste Musikhochschule Deutschlands; sie trägt bis heute seinen Namen. Noch im Gründungsjahr machte man Men­delssohn zum Ehrenbürger der Stadt, zuvor hatte er von der Universität die philosophische Ehrendoktorwürde erhalten. Mendels­sohn war als der damals bedeutendste Komponist der sächsischen Kultur- und Universitätsstadt zweifellos fest etabliert. Folglich wurde im zurück­liegenden Men­delssohn-Jahr 2009 auch nirgends so vielfältig-intensiv des musika­lischen Vermächtnisses des Kom­ponisten gedacht wie in Leipzig, das dem an den Folgen mehrerer Schlaganfälle mit 38 Jahren zu früh verstorbenen Komponisten zur langjährigen geistigen Wahlheimat wurde.
Nicht zuletzt haben sich mehrere in Leipzig beheimatete Klassik­labels diskografisch 2009 um das Thema „Mendelssohn“ verdient gemacht. Mit einer alles andere als alltäglichen Mendelssohn-Einspielung mit den beiden Organisten Martin Schmeding und Rudolf Lutz wartetet das Label Genuin auf. Im Fokus des zweigeteilten Programms steht nicht allein das erkennbare archivarische Interesse an einer klingenden musikhistorischen Dokumentation, sondern ebenso die kontrast- und abwechslungsreiche Geschichte der hier versammelten recht verschiedenen Instrumente und der „historischen“ Spielstätten.
Martin Schmeding, u. a. Träger des Felix-Mendelssohn-Bartholdy-Prei­ses, Dresdener Kreuzorganist (2002 bis 2004) und heute Orgelprofessor in Freiburg im Breisgau, gruppiert sein „Leipziger Allerlei“ um das lokalpatriotische Generalthema „Men­delssohn – Orgelmusik – Leipzig“ mit Originalwerken und Transkriptionen von Bach bis zu dem (Leipziger) Mendelssohn-Schüler Niels Wilhelm Gade (1817-90). Besonders instruktiv nehmen sich diverse Bach-Bearbeitungen aus dem Mendelssohn-Umkreis aus, gestatten dem Hörer aussagefähige aufführungs­praktische Einblicke in die Leipziger Orgelkultur der Biedermeierzeit.
Der für gelegentliche Extravaganz bekannte, unter KollegInnen weithin geschätzte Schweizer Experte für „historische Improvisationspraxis“ Rudolf Lutz konzentriert sich – ganz erwartungsgemäß – auf das improvisatorische Sujet (z. B. in der improvisierten dreiteiligen klassischen Sonate nach Motiven von Bachs Actus tragicus). Das rhapsodische Moment dal gusto dell’ improvissazione erzeugt einerseits dis­parate Spannungsgegensätze (gar zu versponnen-manieriert vielleicht in „Der Mond ist aufgegangen“ – Klänge aus dem Appenzeller Land …) zum Repertoireteil, fördert andererseits aber zugleich Spektakuläres zutage wie in der unkonventionell-subjektiven Deutung und mutigen Vollendung der als autografes Fragment erhaltenen Mendelssohn-Sonate „O Haupt voll Blut und Wunden“ (Choral / Con moto poco Allegro / Andante con moto). Die packend-undogmatische Virtuosität von Lutz’ Spiel, seine in stupender Weise zur Schau getragene Pedaltechnik und die kontrastreich-polychromen Registerwechsel reißen den Hörer selbst bei den stimmfüh­rungstechnisch wie klanglich komplexeren, dabei stets transparent bleibenden polyphonen Abschnitten unmittelbar mit. Insofern ergänzen sich der affektiv aufgeladene Improvisationsstil Rudolf Lutz’ und der spielerisch nicht minder kraft- als temperamentvolle Ansatz Schme­dings recht überzeugend.
Die Aufnahme, die einen etwas weniger sperrigen Titel verdient hätte, ist in mehrfacher Hinsicht zu empfehlen: Zum einen liefert sie eine Art soliden Audio-Grundkurs zum Thema musikalisch-konfessioneller Historismus im 19. Jahrhundert, zum anderen wertvolle Einblicke in die Bach-Rezeption bzw. -Pflege in der „Bach- Stadt“ Leipzig während der Mendelssohn-Zeit. Daneben konfrontiert die CD mit einem unkonventionellen interpretatorischen Doppelansatz der beiden beteiligten bisweilen interpretatorisch recht konträr agierenden Organisten, gepaart mit der Präsentation einer ganzen Reihe vorzüglicher Erarbeitungen mitunter rarer organistischer Pretiosen. Ein ganzes Bündel respektabler historischer wie musikalischer Gründe – und zwar nicht allein für den Orgelfreund –, sich näher mit dieser Aufnahme auseinanderzusetzen; und gewiss einer der fantasievolleren diskografischen Beiträge zum Mendelssohn-Jubi­läum, welcher dem abgegriffenen  und ziemlich nichtssagenden Klischee von der „Bach-Stadt Leipzig“ eine intelligente konkrete Bedeutungsfacette hinzusetzen konnte.

Wolfram Adolph