Leipziger Orgeln um Felix Mendelssohn Bartholdy
Werke von J. S. Bach, Felix Mendelssohn Bartholdy, Robert Schumann, Niels Wilhelm Gade und W. A. Mozart sowie Transkriptionen und Improvisationen
Bewertung: 5 Pfeifen
Mit dem Leipziger Wirken des Zelter-Schülers Mendelssohn verbindet sich namentlich im Bewusstsein der OrganistInnen das musikhistorisch folgenschwere Phänomen der so genannten Bach-Renaissance in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. In der Berliner Sing-Akademie fand am 11. März 1829 nämlich jene legendäre öffentlichkeitswirksame Wiedertaufe (von Mendelssohns Einrichtung) der Bachschen Matthäuspassion unter Mendelssohns Leitung statt. Der gerade zwanzigjährige Komponist bereitete eines der spektakulärsten Revivals der abendländischen Musikgeschichte vor: Streng ist Sebastian allerdings und ernst, aber so, daß selbst bei allem Klagen, Jammern, Reue, Buße, die Heiterkeit und Freude des Daseyns auf das wunderbarste durchbrechen [
] Ich muß es Ihnen sagen, ich glaube hier den Tonsetzer gefunden zu haben, nach dem ich lange suchte, den nämlich, der mit Shakespeare zu vergleichen ist. So äußerte sich unmittelbar nach der Aufführung der Historiker Johann Wilhelm Loebell gegenüber Ludwig Tieck. Im Gefolge dieser Ereignisse konnte 1850 anlässlich des 100. Todestages des Komponisten die Bach-Gesellschaft zu Leipzig gegründet werden. Das einzige Gründungsziel bestand damals in der Herausgabe der historisch-kritischen Gesamtausgabe sämtlicher Bachscher Werke (seit 2007 nunmehr mit der Vollendung der NBA vorläufig abgeschlossen).
Mendelssohn war im August 1835 nach Leipzig übersiedelt, wo er am 4. Oktober im Gewandhaus mit der Ouvertüre Meeresstille und Glückliche Fahrt debütierte. Seine Gewandhauskonzerte wurden mit Begeisterung aufgenommen. Im Gewandhaus gründete er 1843 auch das Leipziger Conservatorium als erste Musikhochschule Deutschlands; sie trägt bis heute seinen Namen. Noch im Gründungsjahr machte man Mendelssohn zum Ehrenbürger der Stadt, zuvor hatte er von der Universität die philosophische Ehrendoktorwürde erhalten. Mendelssohn war als der damals bedeutendste Komponist der sächsischen Kultur- und Universitätsstadt zweifellos fest etabliert. Folglich wurde im zurückliegenden Mendelssohn-Jahr 2009 auch nirgends so vielfältig-intensiv des musikalischen Vermächtnisses des Komponisten gedacht wie in Leipzig, das dem an den Folgen mehrerer Schlaganfälle mit 38 Jahren zu früh verstorbenen Komponisten zur langjährigen geistigen Wahlheimat wurde.
Nicht zuletzt haben sich mehrere in Leipzig beheimatete Klassiklabels diskografisch 2009 um das Thema Mendelssohn verdient gemacht. Mit einer alles andere als alltäglichen Mendelssohn-Einspielung mit den beiden Organisten Martin Schmeding und Rudolf Lutz wartetet das Label Genuin auf. Im Fokus des zweigeteilten Programms steht nicht allein das erkennbare archivarische Interesse an einer klingenden musikhistorischen Dokumentation, sondern ebenso die kontrast- und abwechslungsreiche Geschichte der hier versammelten recht verschiedenen Instrumente und der historischen Spielstätten.
Martin Schmeding, u. a. Träger des Felix-Mendelssohn-Bartholdy-Preises, Dresdener Kreuzorganist (2002 bis 2004) und heute Orgelprofessor in Freiburg im Breisgau, gruppiert sein Leipziger Allerlei um das lokalpatriotische Generalthema Mendelssohn Orgelmusik Leipzig mit Originalwerken und Transkriptionen von Bach bis zu dem (Leipziger) Mendelssohn-Schüler Niels Wilhelm Gade (1817-90). Besonders instruktiv nehmen sich diverse Bach-Bearbeitungen aus dem Mendelssohn-Umkreis aus, gestatten dem Hörer aussagefähige aufführungspraktische Einblicke in die Leipziger Orgelkultur der Biedermeierzeit.
Der für gelegentliche Extravaganz bekannte, unter KollegInnen weithin geschätzte Schweizer Experte für historische Improvisationspraxis Rudolf Lutz konzentriert sich ganz erwartungsgemäß auf das improvisatorische Sujet (z. B. in der improvisierten dreiteiligen klassischen Sonate nach Motiven von Bachs Actus tragicus). Das rhapsodische Moment dal gusto dell improvissazione erzeugt einerseits disparate Spannungsgegensätze (gar zu versponnen-manieriert vielleicht in Der Mond ist aufgegangen Klänge aus dem Appenzeller Land
) zum Repertoireteil, fördert andererseits aber zugleich Spektakuläres zutage wie in der unkonventionell-subjektiven Deutung und mutigen Vollendung der als autografes Fragment erhaltenen Mendelssohn-Sonate O Haupt voll Blut und Wunden (Choral / Con moto poco Allegro / Andante con moto). Die packend-undogmatische Virtuosität von Lutz Spiel, seine in stupender Weise zur Schau getragene Pedaltechnik und die kontrastreich-polychromen Registerwechsel reißen den Hörer selbst bei den stimmführungstechnisch wie klanglich komplexeren, dabei stets transparent bleibenden polyphonen Abschnitten unmittelbar mit. Insofern ergänzen sich der affektiv aufgeladene Improvisationsstil Rudolf Lutz und der spielerisch nicht minder kraft- als temperamentvolle Ansatz Schmedings recht überzeugend.
Die Aufnahme, die einen etwas weniger sperrigen Titel verdient hätte, ist in mehrfacher Hinsicht zu empfehlen: Zum einen liefert sie eine Art soliden Audio-Grundkurs zum Thema musikalisch-konfessioneller Historismus im 19. Jahrhundert, zum anderen wertvolle Einblicke in die Bach-Rezeption bzw. -Pflege in der Bach- Stadt Leipzig während der Mendelssohn-Zeit. Daneben konfrontiert die CD mit einem unkonventionellen interpretatorischen Doppelansatz der beiden beteiligten bisweilen interpretatorisch recht konträr agierenden Organisten, gepaart mit der Präsentation einer ganzen Reihe vorzüglicher Erarbeitungen mitunter rarer organistischer Pretiosen. Ein ganzes Bündel respektabler historischer wie musikalischer Gründe und zwar nicht allein für den Orgelfreund , sich näher mit dieser Aufnahme auseinanderzusetzen; und gewiss einer der fantasievolleren diskografischen Beiträge zum Mendelssohn-Jubiläum, welcher dem abgegriffenen und ziemlich nichtssagenden Klischee von der Bach-Stadt Leipzig eine intelligente konkrete Bedeutungsfacette hinzusetzen konnte.
Wolfram Adolph