Messiaen, Olivier

La Nativité du Seigneur

Verlag/Label: Naxos 8.7573332 (2014)
erschienen in: organ 2015/01 , Seite 58

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Le Banquet celeste, Apparition de l’ Eglise éternelle und noch L’Ascension, von den im Nachlass entdeckten Frühwerken ganz abgesehen: das alles sind Stationen im Werk Olivier Messiaens auf dem Weg zu seinem ganz eigenen, unverwechselbaren Orgelmusik-Stil. Doch erst mit La Nativité du Seigneur, dem im Jahre 1935 komponierten ersten umfangreichen Zyklus, wurde das Ziel im Wesentlichen erreicht. Unverkennbar ist hier die persönliche, zugleich zutiefst spirituelle Klangsprache Messiaens ausgeprägt: die auf einem System sogenannter „Modi“ entfaltete, abseits von Dur und Moll neuartig konsonante Schönheit entfaltende Harmonik sowie die eigenwillige Metrik mit ihren taktdehnenden Zusatz-Zählzeiten und Anregungen durch Rhythmen der indischen Musik. Nur das Konzert der Vogelstimmen, wie der begeis­terte Ornithologe Messiaen sie der Natur ablauschte und in seine späteren Werke integrierte, ist erst in Ansätzen zu erahnen.
Für das Label Naxos hat der britische Organist Tom Winpenny Messiaens La Nativité du Seigneur neu eingespielt, und zwar an der Orgel der nicht weit nördlich von London gelegenen St. Albans Cathedral, wo er die Funktion eines „Assistant Master of the Music“ ausübt. Um es gleich bündig zu sagen: Tom Winpennys Interpreta­tion vermag sowohl in musikalischer wie auch ästhetischer Hinsicht vollkommen zu überzeugen. Das im Jahr 1962 von der Firma Harrison & Harrison aus Durham erbaute und 2007–09 von ihr restaurierte sowie erweiterte viermanualige Instrument bietet dem Organisten mit seinem Reichtum an Registern genügend Möglichkeiten, den im Notentext präzise festgehaltenen Vorstellungen Messiaens zu folgen. Dazu ist die Akustik des Kathedralraums – die auf der vorliegenden CD auch technisch bestens eingefangen ist – ideal für die magischen Klänge von Messiaens Meditationen, die oft aus weiter Ferne, sozusagen aus himmlischen Höhen ertönen.
Tom Winpenny bringt vor allem die Ruhe mit, Messiaens „Très lent“- und „Extrêmement lent et solennel“-Anweisungen ganz ernst zu nehmen. In Klängen, die wie in die Ewigkeit reichen, lässt er das Wunder der Inkarnation zum sinnlichen Erlebnis werden. Machtvoll statuarisch klingen dagegen die Pedal-Themen in „Le Verbe“ und im abschließenden „Dieu parmi nous“, das Winpennys Interpretation zur brillant schillernden Schlusstoccata voll überschäumender Freude entwickelt, ganz getreu dem von Messiaen dem Lukas-Evangelium entnommenen Motto „Mein Geist freuet sich Gottes“. Doch Messiaens theologisches Programm spart auch im Moment des weihnachtlichen Jubels nicht den kommenden Kreuzestod aus, wenn sich die Musik der Nr. 7 des Zyk­lus, „Jésus accepte la souffrance“, unter Winpennys Händen in kurzen, scharfen Schmerzensgesten und quälenden chromatischen Linien ergeht, bevor sie sich schließlich zu majestätischer Gefasstheit durchringt.
 
Gerhard Dietel