Krämer, Thomas
Kontrapunkt in Selbststudium und Unterricht
Unter den musiktheoretischen Disziplinen führt das Fach Kontrapunkt vermutlich nicht gerade die Beliebtheitsskala an. Die Gründe hierfür liegen sicherlich im heute wie einst als akademisch empfundenen scholastischen Regelkanon, der zumindest auf den ersten Blick nur wenig Raum für kreative Prozesse zu lassen scheint. Die didaktische Kompetenz des vermittelnden Theorielehrers scheint gerade hier mehr gefragt zu sein als bei den meisten anderen musikalisch-propädeutischen Fächern und fordert ein abgewogenes Maß zwischen Freiheit und Regelkonformität. Vielerorts begegnet bis heute ein sehr verschultes Verständnis von Kontrapunkt im Sinne einer bloßen kompositorischen Grammatik als einer Kompositionsweise, die in der spätmittelalterlichen Polyphonie fußt und jeweils nur mit richtig (= regelkonform) oder falsch (= regelwidrig) bewertet werden kann.
In dem bei Breitkopf &?Härtel neu erschienenen Lehrbuch Kontrapunkt in Selbststudium und Unterricht gewährt der bekannte Musiktheoretiker und Hochschullehrer Thomas Krämer Einblick in das Ergebnis eines Jahrzehnte währenden Ringens um eine musiknahe Vermittlung des Fachs Kontrapunkt. Es versteht sich in gewisser Weise als Ergänzung und unmittelbare thematische Fortführung des Lehrbuchs Harmonielehre in Selbststudium und Unterricht (1991) des Autors, das inzwischen in einer stark überarbeiteten Neuauflage vorliegt. 1997 erschien ein weiterer Folgeband, das Lehrbuch der harmonischen Analyse.
Um es vorwegzunehmen: auch das jüngste Lehrwerk ist Thomas Krämer rundum geglückt und bildet die wohl gründlichste neuere Darstellung zum Thema in der Gestalt eines Arbeitsbuchs. Krämer bietet mit dieser Publikation ein kleines Kompendium, das für viele Zwecke Anwendbarkeit besitzt: Der bereits fertig studierte Musiker kann sich anhand der kurz gefassten Definitionen (mit Beispielen) bestimmte Begriffe noch einmal in ihrer Phänomenologie in Erinnerung rufen; der Lernende öffnet ein praktisches und klar verständliches Handbuch mit einer pädagogisch gelungenen Konzeption.
Kurz zur Konzeption des Buchs: Der rote Faden spinnt sich von der Ein- bis hin zur Achtstimmigkeit, dabei werden jeweils nicht nur kontrapunktische Problemstellungen erfasst und behandelt, sondern gelungene Exkurse in themenübergreifende Bereiche wie Musikgeschichte, barocke Affektenlehre oder Harmonielehre unternommen (ein Wagnis, das bei vergleichbaren Publikationen bisweilen auch missglückte).
Das Buch überzeugt nicht zuletzt wegen seines hohen Praxisbezugs und seiner praktikablen Handhabbarkeit: Zu jedem Thema werden neben Beispielen aus der Musikgeschichte jeweils konkrete Aufgaben gestellt, deren Lösung der Autor im Anhang mitteilt. MusikerInnen, die in ihrer Berufspraxis wohl am meisten mit dem Thema Kontrapunkt konfrontiert sind, also Organisten und Cembalisten, sei das Buch ganz besonders ans Herz gelegt, zeigt sich der Autor als Hochschullehrer hier als ein Mann der kirchenmusikalischen Praxis, der die hohe Präferenz des Kontrapunkts für den Bereich des Liturgischen Orgelspiels aus eigener Erfahrung richtig einzuschätzen und anzuwenden weiß.
Jörg Abbing