Dominik Susteck

Knochenpfeifen und Krachlatte

Hans-Joachim Hespos und die Orgelmusik ab 1962

Verlag/Label: Are, Köln 2023, 230 Seiten, 24 Euro
erschienen in: organ - Journal für die Orgel 2024/03 , Seite 54

Die Geburt der neuen Orgelmusik datiert auf den 4. Mai 1962. Im Sendesaal von Radio Bremen werden drei Stücke mit sensationell anderen Spieltechniken – Windmanipulationen, Clustern und Mikrotönen – uraufgeführt: György Ligetis Volumina, Mauricio Kagels Improvisation ajoutée und Bengt Hambraeus’ Interferenzen. Die Werke erklingen nicht wie geplant auf der Orgel im Bremer Dom, sondern als Wiedergaben vorheriger Einspielungen durch den schwedischen Organisten Karl-Erik Welin. Denn die Domgemeinde untersagt das Konzert, nachdem Ligetis Stück in Göteborg wegen Überlas­tung der dortigen Orgel einen Schwelbrand verursacht hatte. Für die weltweite Verbreitung der Novitäten sorgen Übertragungen durch Radio Bremen und 77 weitere Rundfunkanstalten (S. 83).
Dominik Susteck kommt in seinem als Dissertation entstandenen Buch immer wieder auf das Bremer Initialereignis zurück. Der Organist und Komponist erörtert, warum da­vor und danach wenig autonome neue Musik für Orgel entstand: wegen der üblichen Platzierung des Instruments in Kirchen, der Einbindung in die Liturgie, der daraus sich ergebenden sakralen Konnotation sowie wegen der Einmaligkeit einer jeden Orgel hinsichtlich Größe, Bauweise, Lokalisierung, Regis­trierung und wahlweise mechanischer, elektrischer oder pneumatischer Traktur. Rekapituliert werden zentrale Entwicklungen der neuen Musik im Allgemeinen seit 1910 sowie neuerer Werke für Orgel im Besonderen. Dabei unterscheidet der Autor Orgelmusik in der Nachfolge der tonal-polyphonen „Orgelbewegung“ und in Fortsetzung der zweiten Wiener Schule mit der Emanzipation von Dissonanz und Geräusch.
Susteck referiert viel bekannte Musikgeschichte, um sie auf Hans-Joa­chim Hespos (1938–2022) zu beziehen und damit aufzuzeigen, dass dieser Komponist entgegen seiner Selbststilisierung als ständig original „neu anders“ Schaffender sehr wohl auf bestehende Strömungen, Techniken und konkrete Werke reagiert habe. Beleuchtet werden Hes­pos’ zentrale ästhetische Kategorien Unzusammenhang, Überforderung, Körper, Improvisation sowie seine kryptischen Titel und sugges­tiven Spiel- und Klangbeschreibungen, etwa „sirrturbulentes zertinkeln“ oder „splitterschaliges geklirr“ (S. 173).
Der zweite Teil der Publikation untersucht chronologisch Hespos’ zwischen 1972 und 2021 entstandene fünf Orgelstücke hinsichtlich Dynamik, Formverlauf, Momenten von Stille, spieltechnischen Besonderheiten, grafischer Notation sowie Zusatzinstrumenten wie Holzhammer und „Krachlatte“. Tonhöhen-Analysen nach der Pitch Class-Theorie führen bloß zu tabellarischen Auflistungen statt zu Erkenntnissen. traces de … (1972) wertet Susteck als „erste mehrdimensionale Geräuschkomposition auf der Orgel“ (S. 141) in Nähe zu Helmut Lachenmanns „musique con­crète instrumentale“. Vor allem wird ein Leitgedanke dieses kleinen, aber besonderen Orgel-Œuvres deutlich: Weil Musik insgesamt als zu harmlos, verbraucht und verhunzt wahrgenommen werde, sei – so Hespos – „Störung eine heilige Tat“.

Rainer Nonnenmann