Daniel Beckmann / Birger Petersen (Hg.)

Klingende Dreifaltigkeit

Die neue Mainzer Domorgel (= Neue Forschungen zum Mainzer Dom, Band 2)

Verlag/Label: Schnell + Steiner, Regensburg 2023, 160 Seiten, 24,95 Euro
erschienen in: organ - Journal für die Orgel 2023/02 , Seite 57

Nach Regensburg und Wien hat auch der Mainzer Dom eine neue Orgelanlage erhalten, errichtet von den Werkstätten Goll (Marienorgel über dem Marktportal, 2021, III/50) und Rieger (Hauptorgel im Ostquerhaus, 2022, V/95). Projektiert ist die Aufarbeitung der Chororgel im Westchor (Klais 1928; Rieger, III/62). Erst dann wird die „Dreifaltigkeit“ vollständig erklingen.
Ebenfalls eine Art Reihe bilden die ausführlichen Dokumentationen aus dem Haus Schnell + Steiner zu den ambitionierten Orgelprojekten, die nun mit dem repräsentativen Band zu einer der wohl komplexes­ten Anlagen unserer Zeit fortgesetzt wurde. Komplex ist bereits die Architektur des Mainzer Doms St. Martin mit zwei Apsiden und zwei Querhäusern; ungewohnt ist außerdem die Orientierung: Der Westchor bildet heute das liturgische Zent­rum. Wie in den meisten mittelalterlichen Kathedralen gab es auch in Mainz mehrere Orgelstandorte; zwischen 1968 und 2021 waren es sieben (!, das unabhängige Werk in der Gotthardkapelle nicht mitgezählt). Wer sich in diesem mehrgliedrigen Bauwerk nicht auskennt, wird sich bei der Lektüre mit der Orientierung schwertun, zumal die Positionen im Lauf der Zeit unterschiedlich und teilweise mehrfach bezeichnet sind. Ein Grundriss mit den alten und neuen Orgelstandorten in ausreichender Größe und an zentraler Stelle wäre hilfreich gewesen; solche Schemata in Miniaturformat entdeckt nur, wer die technischen Zeichnungen im Anhang studiert.
Im Übrigen ist der Band klar gegliedert: Den Grußworten folgen zunächst die Dispositionen. Ein ers­tes Großkapitel widmet sich sodann dem Werdegang der neuen Orgelanlage. Zu Wort kommen da­bei der amtierende Domorganist Daniel Beckmann sowie die Leiter der beiden Orgelbauwerkstätten Goll und Rieger, Simon Hebeisen und Wendelin Eberle. Bischof Peter Kohlgraf sucht man unter den Honoratioren zu Beginn des Buchs vergebens. Seine quantitativ fast unscheinbare, inhaltlich jedoch höchst bedeutende Betrachtung „Die Orgel im Dienste des ‚Klanges des Unsagbaren‘“ bildet sinnreich die Mitte der Beiträge. Sie vermittelt vielschichtig zwischen Göttlichem und Menschlichem, zwischen Stille und erhebender Klangsprache, zwischen Liturgie und Konzert, zwischen Tradition und Reform. – Da­ran schließen sich logisch die Gedanken zum Mainzer Orgelprojekt aus denkmalpflegerischer Sicht von Diana Ecker an.
Der Themenblock „Die Orgelweihe im Sommer 2022“ beginnt mit einer großzügigen Bildstrecke. Es ist wohltuend, dass in Publikationen unseres Fachgebiets nun immer öfter auch Menschen zu sehen sind – bei ihrer Arbeit oder einfach staunend. Die Verbundenheit von Bischof Kohlgraf mit der Orgel wird auf sympathische Weise augenfällig, wenn er zusammen mit Daniel Beckmann am Zentralspieltisch der neuen Orgel sitzt. Ob es klug war, den versammelten Klerus in Pose bei der Einweihung in so vielen Szenen zu verewigen, mag Ansichtssache sein. Ein weiterer großer Vorzug dieser Veröffentlichung sind die vielen Detailfotos – auch und gerade dort, wo sie „nur“ der Erbauung dienen. Einigen Bildern fehlt allerdings die Beschriftung. – Dass die jetzige Orgelanlage mit der Orgelgeschichte des Mainzer Doms einerseits eng verbunden ist, sie andererseits auch durchbricht, geht aus den Texten von Birger Petersen und Achim Seip zur Historie hervor. Geschickt eingebunden sind die Gedanken und Erfahrungen des vormaligen Domorganisten Albert Schönberger.
Zwei große Themen durchziehen die Diskussionen um Orgelbauten in mittelalterlichen Bauwerken generell – und im Falle Mainz in besonders hohem Maße. Zum einen ist es der scheinbar unauflösbare Konflikt zwischen Denkmalpflege und Wünschen der Auftraggeber sowie Musiker: Wohin mit den großen Klangkörpern? Sie fallen mit ihren fast reduktionistischen Prospekten zunächst im Erscheinungsbild des Doms kaum auf. Dafür befinden sie sich für ihre jeweilige Aufgabe an der wohl günstigsten Stelle: die Marienorgel in der Mitte des Hauptschiffs und damit nahe bei der singenden Gemeinde, die Hauptorgel in den Arkaden über dem Ostchor, um sinfonische Musik klar zeichnend aus der Höhe zu senden. Die Orgel hinter dem Chorgestühl im Westen war von Anfang an als liturgisches Instrument für diesen Raumteil bestimmt und wird dies auch bleiben.
An ihr lässt sich besonders deutlich der zweite die Planungen und die Ausführung des Gesamtprojekts bestimmende Aspekt festmachen: die vielfachen Veränderungen in der Liturgie und Musikpraxis allein im Lauf des 20. und 21. Jahrhunderts. Als das Instrument 1928 gebaut wurde, begann die liturgische Bewegung. Noch zu Beginn der 1960er Jahre, als die Vorgänger-Anlage im Mainzer Dom geplant wurde, hatte die Orgel im katholischen Gottesdienst überwiegend eine begleitende Funktion. Das Zweite Vaticanum und die Liturgiereform übertrugen ihr dagegen Aufgaben jenseits des Klerus. Hinzu kam die Emanzipation von Kirchenmusik auch außerhalb der Gottesdienste in Konzerten mit einer enormen Ausweitung des Literaturspektrums und der Improvisationskunst. Das Ringen um einen Klangkörper, der alle diese Bedürfnisse einbezieht, zeigt sich besonders deutlich an der Genese der Mainzer Westchor-Orgel, wird jedoch an vielen Stellen dieser Veröffentlichung aus unterschiedlichen Blickwinkeln angesprochen.
Wie schwierig es war, zwei große Instrumente so in die Architektur zu integrieren, dass sie keine Sichtachsen stören, sich aber klanglich optimal entfalten, technisch sinnvoll aufgebaut und zu Wartungszwe­cken gut zugänglich sind, ist aus den Zeichnungen im Anhang zu ersehen. Dort werden auch die Autoren vorgestellt. – Um ein paar wohl der Eile geschuldete Unklarheiten zu entgehen, hätten wir gerne etwas länger auf diese insgesamt ergiebige Dokumentation zu einem herausfordernden Orgelprojekt gewartet.

Markus Zimmermann