Kleine Choralvorspiele und Begleitsätze zu den Liedern des Evangelischen Gesangbuches

Ostern bis Ende des Kirchenjahres, hg. von Gunther Martin Göttsche und Martin Weyer

Verlag/Label: Bärenreiter Verlag (BA 9273)
erschienen in: organ 2010/03 , Seite 60

Vor nicht allzu langer Zeit begnügten sich die protestantischen OrganistInnen in aller Regel noch mit einer einzigen dicken Schwarte mit Orgelchoralbegleitsätzen bzw. Vorspielen und Kurzintonationen um  Evangelisches Kirchengesangbuch bzw.  Evangelisches Gesangbuch, die in aller Regel die gesamte organistische Amtszeit über auch mehr oder weniger exklusiv genutzt wurden. Heute ist auch dieser Markt heftig umworben und dem Spieler bietet sich eine wachsende Fülle von Ausgaben neuer und neuester Choralbegleitungen.
Die Entwicklung der Kirche(n) zeigt allerdings auch, dass altgediente Orgelchoralbücher herkömmlicher Art den gewandelten Anforderungen heute bei weitem nicht mehr genügen. Im Vorwort des vorliegenden Bandes wird mit Recht darauf verwiesen, dass es immer schwe­rer sein wird, geeignete Organisten für den allsonntäglichen Gottesdienst zu rekrutieren. Immer mehr „Quereinsteiger“ – meist solche, die früher irgendwann einmal (etwas) Klavierunterricht genossen haben – übernehmen den Part des zunehmend „fehlenden“ Organisten. Für diese Klientel muss ebenfalls eine geeignete Literatur geboten werden, damit der Übeaufwand für Gottesdienste – die Lieder erden in der Regel recht „zeitnah“ zum Gottesdienst mitgeteilt – sich minimal gestaltet, bei gleichzeitig maximalem Effekt! Des Weiteren sollte die sehr hinderliche und oftmals unhandliche „Materialflut“ wie dicke Notenbände für Choräle sowie nicht minder umfangreiche Bände mit Choral­vorspielen übersichtlicher und buch­stäblich „handlicher“ gestaltet werden.
Aus der umfangreichen Praxis des Unterrichtens entstand der vorliegende Band Kleine Choralvorspiele und Begleitsätze (mit dem erläuternden Untertitel: „zu den Liedern des Evangelischen Gesangbuches“). Nach einem instruktivem Vorwort, das die momentane Praxis schlaglichtartig beleuchtet und wertvolle pädagogische Hinweise für Anfänger enthält, folgt der Notenteil, beginnend mit Chorälen der Osterzeit, geordnet nach dem Evangelischen Gesangbuch und in der logischen Reihenfolge: Vorspiel (In­tonation) und Begleitsatz. Die Ausgabe besticht durch ihre Farbigkeit in den Vorspielen, die keinesfalls „primitiv“ oder zwangsläufig einfältig klingen – auch eine kurze Einleitung in den Choral kann eine Kunst sein. Modern, frech, ungewohnt ohne Extreme, überraschend – schon diese Vorspiele als überzeugende Alternative zu den sattsam bekannten Intonationsnotenbänden voller oftmals ermüdenden Organistenzwirns gewährleisten einen Anspruch, der über das Übliche hinausgeht.
Die Choralsätze erweisen sich dagegen eher als diskutabel. Klar erkennbar ist die Absicht, sich von der konventionellen Kantionalsatzpraxis, die nicht immer sehr orgelgemäß ausfällt, abzusetzen: Der Satz scheint oftmals gelockert, die Mittelstimm(en) wie auch das Pedal können freier geführt werden. Stereotype Satzformen sind out, künstlerische Ansprüche auch und gerade im Choralsatz in … Dennoch bleibt die Frage nach dem Sinn der Darstellung des Chorals auf der Orgel im Grunde unbeantwortet. Jede neue Edition von Choralsätzen, so scheint es, zielt auf eine irgendwie geartete künstlerische Entfaltung; dabei wäre doch zuerst die Frage zu beantworten, welchen Affekt der Choral aufweist und wie dieser mit einfachen Mitteln plausibel dar­zustellen ist. Die Einbeziehung des Affekts aber scheint auch hier ein Desiderat zu bleiben. Dabei wäre es ein Leichtes gewesen, beispielsweise im Choral „Mit Freuden zart zu dieser Fahrt …“ auch klanglich die fröhliche Fahrt anzudeuten – ein in der Chormusik geläufiges, sogar ein vom Zuhörer im 17. und 18. Jahrhundert durchaus erwartetes Verfahren. Leider, so muss konstatiert werden, haben die beiden Herausgeber und Komponis­ten hier (wieder) eine Gelegenheit verpasst, und so warten wir auf eine weitere Ausgabe, die Choräle nicht nur von der Melodie, sondern auch vom Text her als ein „Gesamtkunstwerk“ begreift.
Trotz der geäußerten Skepsis sollte der Spieler nicht unbedingt achtlos an dieser Ausgabe vorbeigehen: Die wenige Mühe wird sich lohnen, denn es ist im besten Sinne eine Edition „aus der Praxis für die Praxis“!
Der Text ist tadellos gesetzt, den Chorälen wurde die erste Strophe im Notentext hinzugefügt. Am Schluss finden sich zudem die Kurzvitae der beiden komponierenden Herausgeber.

Volker Ellenberger