Wörner, Roland

Karl Richter – Musikalischer Brückenbauer ins Überirdische

Eine Wirkungsgeschichte

Verlag/Label: edition baptisma, Heilbronn 2016, 806 Seiten, 44,80 Euro
erschienen in: organ 2017/02 , Seite 61

Etwas ratlos begegnet der unvoreingenommene Musikfreund dieser mit 806 Druckseiten zweifelsohne als „monumental“ zu klassifizierenden Veröffentlichung über Leben und Wirken Karl Richters (1926–81), im Herbst des vergangenen Jahres zu dessen 90. Geburtstag im Selbstverlag des Autors erschienen. Ebenso monumental ist freilich der Gegenstand selbst, dem sich der freie Musikpublizist Roland Wörner hier zu nähern versucht.
Wie ein monolithischer Zyklop ragt der Dirigent, Chorleiter, Organist und Cembalist Karl Richter (1926–81) empor aus dem bürgerlich-evangelischen Kirchenmusikbetrieb der Nachkriegsjahrzehnte und der Bach-Interpretation nach 1945. Als junger Mann beschloss der offensichtlich hochgradig musikbegabte Pfarrerssohn aus Plauen, inspiriert von der lutherischen Kantorentradition seiner mitteldeutschen Heimat, dem prägenden frühen Klangeindruck der sächsischen Silbermann-Orgeln und der Musik
J. S. Bachs, sein Leben fortan in den Dienst der Kirchenmusik zu stellen. Ab 1937 hatte Richter das Kreuzgymnasium in Dresden besucht und war dort Mitglied des Kreuzchors. 1940 nahm ihn Karl Straube nach seinem Ruhestand als letzten Schüler an. Nach dem Krieg studierte Richter am Konservatorium Leipzig sowie am renommierten Kirchenmusikalischen Institut bei Karl Straube und Günther Ramin, 1949 wurde er Thomasorganist.
In seinem allzu kurzen Leben, das nur 54 Jahre währte, setzte Richter seinen kirchenmusikalischen Berufswunsch vor allem an der Leipziger Thomaskirche und dann in München an der Markuskirche um. Dazu kamen Konzertauftritte weltweit, Fernseh- und Radioaufnahmen, Schallplatteneinspielungen für Teldec, Decca und Deutsche Grammophon sowie als Hochschullehrer in München. Es gelang ihm dabei, auch internationale Aufmerksamkeit auf seine Person und sein künstlerisches Tun zu lenken. So mag es nicht verwundern, dass sich schon zu Richters Lebzeiten eine stattliche Fangemeinde um den Chef des renommierten Münchener Bachchors und -orchesters bildete, die bis in unsere Tage weiter existiert und in allerjüngster Zeit sogar erneuten Zuwachs verzeichnet.
Viel wurde über das Faszinosum Karl Richter bereits nachgedacht und (öffentlich) spekuliert. Die hier vorgelegte Neuveröffentlichung macht es sich zur Aufgabe, soweit als möglich alle wesentlichen, an unterschiedlichs­ten Orten verstreut publizierten Zeugnisse über Richter für den interessierten Leser an einem Ort zu kollektieren und (sparsam) zu kommentieren. Man findet Zeitungsporträts und Interviews, Konzert- bzw. Schallplattenkritiken aus deutschen und internationalen Medien, dazu alle bekannten (auffindbaren) Konzerttermine und die mitwirkenden Künstler. Der Autor ist dabei bestrebt, die Entstehung einer damals neuen Bach-Begeisterung im deutschsprachigen Raum nachzuzeichnen, die in den sechziger und siebziger Jahren durch das musikalische Sonderphänomen Karl Richter überhaupt entscheidend mit evoziert wurde, sowie deren unmittelbare übernationale Resonanz.
Dass der Autor dabei selbst hochgradig parteiisch agiert, was etwa den Themenkomplex „Paradigmen­wechsel der Interpretation ,Alter Musik‘ im Kontext der ,historisch informierten Aufführungspraxis‘“ an­geht, verschweigt er dabei keineswegs. Wo Wörner gewisse Aspekte der von ihm als „Uraufführungs­ästhetik“ stigmatisierten sogenannten Histo­rischen Aufführungspraxis streift, die sich ihrerseits „in die Idealwelt einer letztlich ungreifbaren Vergangenheit flüchtet und sich von einer Vergegenwärtigung des ‚alten‘ Werks für die je aktuelle Gegenwart und ihren zeitgenössischen Hörer verabschiedet hat“ (Wörner), wird deutlich, wie sehr der Autor hier letztlich als Hagiograf Richters und weniger als dessen Biograf  im seriösen Sinn in Erscheinung tritt.
Neben der minutiösen biografischen Nachzeichnung der Lebens- bzw. Schaffensetappen des Künstlers wird der Band ergänzt durch recht persönlich bis eigenwillig gefärbte Essays Wörners über Richter als Musiker und Mensch („Prophet“) sowie aufführungspraktische Grundsatzerwägungen. Eine Vielzahl an Fotos, durchweg in schwarz-weiß, vermitteln durchaus etwas von jener heute bereits „historisch“ anmutenden „Richter-Ära“. Über das Personenverzeichnis, eine Diskografie und ein chronologisches Verzeichnis sämtlicher von Richter aufgeführter Werke ist das Buch quasi auch als lexikalisches Nachschlagewerk gut zu verwenden (ein Stichwortverzeichnis/Sachindex hätte dem monumentalen Band vor diesem As­pekt ebenfalls gut getan).
Als ein kritisches Fazit des Rezensenten bleibt also festzuhalten: Wir haben es hier mit einer enormen und im Detail gewiss nützlichen Fleißarbeit zu tun, die aufs Ganze gesehen jedoch den Charakter einer allzu schwärmerischen und daher in der Beurteilung der Jahrhundertgestalt Karl Richters leider oberflächlich bleibenden Eloge auf diesen Ausnahmekünstler besitzt – spürbar verfasst von einem (unverhohlenen) Fan für andere Fans … und leider ohne erkennbares Bemühen um Objektivität, in Teilen gar sachlich irreführend. Eine in die Tiefe gehende sachangemessene Auseinandersetzung mit Fragen der Historischen Aufführungspraxis findet in diesem Buch nicht statt, ebenso wenig mit dem – gerade mit Blick auf Karl Richter – noch immer schwelenden Interpretenstreit um die Rolle historischer Aufführungspraxis heute; viele Musikkenner attestieren dem Solis­ten und Dirigenten Richter in dieser Auseinandersetzung eine weniger schmeichelhafte Blockadehaltung. Was bleibt also: Gott sei dank doch etwas mehr als nur ein kultiges „Stundenbuch“ für die Richter-Gemeinde! Bleibt zuletzt zu hoffen, dass einmal – eventuell zum 100. Geburtstag? – eine umfassende kritische Würdigung Karl Richters auf den Markt kommt, welche dieser Bezeichnung vollumfänglich gerecht wird – das „Phänomen Richter“ hätte es allemal verdient.

Wolfram Adolph