Jean Guillou

Kadenzen für Orgel zu Konzerten von G. F. Händel, C. Ph. E. Bach, W. A. Mozart und Charles-Marie Widor

hg. von Jörg Abbing

Verlag/Label: Schott Music, ED 22611
erschienen in: organ 2018/01 , Seite 63

Man möchte freudigst ausrufen: Endlich auch Kadenzen für populäre Orgelkonzerte aus der Feder eines dazu mehr als berufenen zeitgenössischen Komponisten! Der französische Altmeister Jean Guillou legt hier seine, von Jörg Abbing herausgegebenen, Solokadenzen zu den allseits bekannten Orgelkonzerten von Händel (opp. 4/1, 2, 4; opp. 7/1, 2, 3, 4, 5, 6 sowie die Concerti 13–15), Carl Philipp Emanuel Bach (Concerti G-Dur Wq 34 und Es-Dur Wq 35), der Kirchensonate C-Dur KV 336 und zum ersten Variationssatz in g-Moll der 6. Symphonie (op. 42.2) von Widor vor.
Wer Jean Guillou näher kennt, weiß von vornherein, dass hier freilich keine stilkopierenden Artefakte mit wie auch immer geartetem his­torischem Aplomb zu erwarten sind; obwohl der Komponist in seinem improvisatorischem Satzgestus hier dem Tonalen (noch!) stets hörbar verhaftet bleibt. Allerdings wird – und dies ist vielleicht doch etwas schade! – die Verwendung bzw. Aufführung der jeweiligen barocken bzw. klassischen Konzerte auf zeitgenössischen „historischen“ Orgeln allein durch die in den Kadenzen von Guillou geforderten Manual- und Pedalumfänge sowie die zahlreichen komplexen Modulationen in entlegenste Tonarten a priori komplett ausgeschlossen. Zumeist ist ein mehrmanualige Orgel mit autarkem Pedal gefordert. Die Registrieranweisungen, ganz im Sinne des einstigen Titulaire (und „Phantasten“) an der über hundertstimmigen großen Orgel der Pariser Kirche St. Eustache, sind farbig, fantasievoll und durchaus typisch für ihren Urheber.
Das Vorwort zitiert den Maître selbst mit den Worten: „… denn es gibt immer einen Bruch zwischen dem Stil des Komponisten und der eigenen musikalischen Sprache. Ich habe es immer als eine interessante Aufgabe empfunden, ein Thema, das der Komponist erfunden hat, nach meiner Art weiter zu entwickeln.“ Dies gelingt Guillou hier in besonderem Maße. Er verwendet in verblüffender Stringenz Themen und Kompositionspatterns aus den jeweiligen Originalwerken und verarbeitet diese frei, jedoch stets tonal, verbindet sie zu neuen Gebilden und fantasiert mit gewohntem Esprit geist- und durchaus auch stilvoll bzw. stilgerecht konsequent aus der persönlichen Sicht eines Virtuosen des 20. bzw. 21. Jahrhunderts.
Der der bedeutenden französischen Dupré-Schule entstammende Guillou trifft dabei zuverlässig den charakteristischen „spirituellen Ton“ des jeweiligen Komponisten und schreibt niemals „gegen“ diesen an. So persifliert er beispielsweise augenzwinkernd Händels sequenzierendes Fortspinnungsmuster in exo­tischste Tonartregionen. Die einzelnen Kadenzen fallen dabei in Länge (dies zuweilen auch ein wenig hypertroph!) und Schwierigkeitsgrad gänzlich unterschiedlich aus. Vom einsätzigem Interludium bis zur mehrteiligen polyphonen Form, von der zweistimmigen Invention über Trios, begleitete Solos bis zur virtuosen Vielstimmigkeit wird praktisch alles geboten. Spielfreude pur versprüht sich, die auch mal knifflig werden und zuweilen etwas „überdimensioniert“ werden kann – Jean Guillou eben!

Stefan Kagl