Litaize, Gaston

Jubilate Deo – Intégrale des œuvres pour orgue (Complete organ works)

5 CDs

Verlag/Label: Bayard Musique, FKM0207 (2009)
erschienen in: organ 2010/04 , Seite 53

Bewertung: 4 Pfeifen

Wer wie der Rezensent das außerordentliche Glück hatte, Gaston Litaize (1909-91) noch live im Kon­zert zu erleben, inklusive der Begeisterungsstürme, welche das bis ins hohe Alter unvermindert zupackend-vitale und hochvirtuose Spiel des französischen Großmeis­ters der Orgel beim Publikum gelegentlich entfachte, wird die vorliegende, zu seinem 100. Geburtstag erschienene Gesamteinspielung seiner Orgelwerke durch zwei seiner ehemaligen Schüler um so mehr zu schätzen wissen.
Der von Geburt an blinde Litaize studierte zunächst an der Institution National des Jeunes Aveugles in Paris, später am traditionsreichen Pariser Conservatoire bei Marcel Dupré (Orgel). Ferner war er Privatschüler von Louis Vierne. 1938 gewann er den Seconde Grand Prix de Rome in Komposition, der damals erstmalig einem blinden Musiker verliehen wurde. 1946 erfolgte die Ernennung zum Titularorganis­ten an St. François-Xavier in Paris und zum Professor für Orgel an der Institution Nationale des Jeunes Aveugles.
Litaize war den innovativen Medien seiner Zeit überaus aufgeschlossen und war beim staatlichen französischen Rundfunk (Radio France) jahrzehntelang verantwortlich für die Sparten Geistliche Musik und Orgelmusik. Gegenüber seiner unumstrittenen Bedeutung als international anerkannter Orgelinterpret und -improvisator der Nachkriegs­ära ist Litaize als Komponist für die Orgel einem größeren Publikum kaum bekannt geworden. Von dem gar nicht einmal kleinen Œuvre hat sich am ehesten noch sein Prélude et danse fuguée (1964) einen Platz im gängigen Konzertrepertoire der Organisten erobern können.
Das bekannte Pariser Organisten­-Ehepaar Marie-Ange Leurent und Eric Lebrun, das schon lange als Duo auch bei CD-Editionen in Erscheinung tritt, ergänzt sich auf den fünf Volumes wunderbar. Die präzise Koordination ihres Zusammen­spiels gelingt in der Sonate à deux ganz ausgezeichnet. Aber auch im alternierenden solistischen Wech­sel harmonieren die beiden einstigen Litaize-Schüler erstklassig, ihre gemeinsame interpretatorische Intention stets zielstrebig im Blick behaltend.
Litaize selbst wäre als einer der maßgeblichen Protagonisten der Ästhetik des „Orgue néo-classique“ mit der Interpretation, vermutlich aber auch mit der Auswahl der Instrumente einverstanden gewesen: der Aristide Cavaillé-Coll-Orgel sowie der Chor-(Merklin)-Orgel von Saint-Antoine-des-Quinze-Vingts in Paris und dem 2004 in post-symphonischem Geist erschaffenen Fossaert-Tricoteaux-Instrument von Saint-Vaast in Bondues. Freilich bietet insbesondere die Orgel Cavaillé-Colls, die zu den am stilreinsten erhaltenen Orgeln des Pariser Orgelbaus überhaupt zählt, nicht die gan­ze Palette des von Litaize innerhalb seines neoklassischen Klangkonzepts präferierten Klangfarbenspektrums (Mixturen, Einzelaliqutoe, Regale u. a.), vermag jedoch derartige „Defizite“ mit ihrer expressiven und kernigen Intonationsart – auf vergleichsweise hohem Wind, zudem in der sehr klaren und verständlichen Orgel­akustik des Raums – jedoch überzeugend auszugleichen.
Litaizes Orgel-Gesamtschaffen lässt sich in unterschiedliche Phasen der Entstehung wie der stilistischen Entwicklung einteilen. Alle Kompositionen behalten indes die formale Nähe zur klassischen französischen Tradition. Litaize verlässt – bei aller Vorliebe für eine bisweilen herbe, teils auf antiken, griechisch-byzantinischen und mittelalterlichen Vorbildern fußende Harmonik – jedoch niemals den Boden der Tonalität. Man findet hier eine wahre Schatztruhe an organistischen Pretiosen für Liturgie und Konzert; das meiste natürlich für Orgel solo, aber auch die erwähnte Sonate für zwei Spieler sowie das Triptychon Pentecote für zwei Orgeln etc. Liturgisch gebundene Musik durch das Kirchenjahr steht neben fantasieartigen, freien Formen. Die 24 Préludes liturgiques bieten für sich genommen eine Fundgrube des gottesdienst­lichen Orgelspiels und ebenso eine vorzügliche Inspirationsquelle für die eigene Improvisationspraxis.
Diese in interpretatorischer Hinsicht erstklassige, längst überfällig gewesene Referenzaufnahme mit einer informativen Bookletbeigabe – leider nur auf Französisch – leis­tet einen gewichtigen Beitrag in Bezug auf die verdiente Rezeption des Orgelwerks Gaston Litaizes, dem unabhängig von Jubiläen (2011 folgt der zwanzigjährige Todestag) grund­sätzlich eine stärkere Rezeption bzw. Präsenz bei den Konzertprogrammen zu wünschen ist.
Christian von Blohn